„Die westlichen Mächte verletzen das Völkerrecht
und zerstören internationale Institutionen“
Von Donald Ramotar
Donald Ramotar war von 2011 bis 2015 Präsident von Guyana. In der
Berliner Konferenz des Schiller-Instituts war er per Video zugeschaltet und
sagte am 12. Juli folgendes. (Übersetzung aus dem Englischen,
Zwischenüberschriften wurde von der Redaktion hinzugefügt.)
Vielen Dank. Ich möchte zunächst die Organisatoren dieser wichtigen
Veranstaltung begrüßen. Wir brauchen sie mehr denn je, angesichts der Zeiten,
die wir gerade durchleben. Wir leben in sehr gefährlichen Zeiten, die geprägt
sind von Spannungen, Kriegen und Kriegsdrohungen.
Man könnte fragen: Warum befinden wir uns an einem solchen Punkt großer
Unsicherheit? Um Antonio Gramsci zu paraphrasieren: Es scheint, daß die alte
Ordnung bankrott ist. Sie hat ihren Nutzen erfüllt und ist nun nicht mehr in der
Lage, die neue Situation zu lösen. Aber eine neue Ordnung muß erst noch
entstehen, und die Gefahr, die von der alten Ordnung ausgeht, ist immens.
Die derzeitige Politik der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union
basiert auf Kriegen und Kriegsdrohungen. Dazu gehören Sanktionen gegen Länder
und nun auch gegen Organisationen und sogar gegen Einzelpersonen. In unserer
Region, der Karibik, ist Kuba wahrscheinlich das Land, das am längsten mit
Sanktionen belegt ist – und das nur, weil es einen neuen Weg, einen humaneren
Weg der Entwicklung finden will. Deshalb wird es so stark schikaniert und
sanktioniert.
Die Situation um Rußland und die Ukraine ist ebenfalls Teil dieses sterbenden
Systems, das alles kontrollieren will, und wahrscheinlich ist es ein
Überbleibsel der Haltung des Westens gegenüber der Sowjetunion. Sie sehen
Rußland als Erben der Sowjetunion und zumindest einiger Aspekte ihrer Politik,
insbesondere der Friedenspolitik, die sie zerschlagen müssen.
Die alte Ordnung zerfällt
Aber nichts hat uns die Dekadenz des Systems, in dem wir leben, deutlicher
vor Augen geführt als das, was heute im Nahen Osten geschieht. Dort zerfällt die
alte Ordnung, wie es am deutlichsten in Gaza, im Westjordanland, im Jordantal
und in Ostjerusalem zu sehen ist. Vor den Augen der Welt findet ein Völkermord
statt, aber diejenigen, die die Macht hätten, ihn zu stoppen, unternehmen
nichts. Statt dessen sehen wir, wie Menschenleben auf barbarische Weise
vernichtet werden. Unter ihnen sind Kinder; Kinder werden ebenso wie Frauen
gezielt angegriffen. Und bestimmte Gruppen wie Ärzte und medizinisches Personal
sowie Rettungskräfte werden brutal ermordet. Journalisten und ihre Familien
werden mit dem Tod bedroht. Diese Situation mindert unsere Menschlichkeit.
Die westliche Welt, insbesondere die USA und die NATO-Mitgliedstaaten, sind
nicht nur mitschuldig an dieser Barbarei. Sie sind Teilnehmer und Wegbereiter
der grausamen Vernichtung dieser Leben. Um das faschistische Apartheidregime in
Israel zu schützen, sind die westlichen Mächte sogar dazu übergegangen,
internationales Recht zu verletzen und internationale Institutionen zu
zerstören. Am 13. Juni dieses Jahres hat Israel einen Überraschungsangriff auf
den Iran durchgeführt und viele seiner führenden Wissenschaftler und
hochrangigen Militärs getötet, die sich zu diesem Zeitpunkt zu Hause
aufhielten.
Tragischerweise scheint es, daß die IAEO bei dem Angriff auf diese Personen
zum Werkzeug Israels und der Vereinigten Staaten wurde. Meiner Meinung nach ist
das Staatsterrorismus in seiner reinsten Form. Der Iran beschuldigt die IAEO,
speziell den USA und Israel den Aufenthaltsort und die Identität dieser Personen
mitgeteilt zu haben. Deshalb werfen sie ihnen vor, an der Ermordung dieser
Menschen, Zivilisten und Militärangehörige, mitschuld gewesen zu sein.
Die USA und ihre Verbündeten haben den IGH, den Internationalen Gerichtshof,
ins Visier genommen, weil er es gewagt hat, Israel und seinen Premierminister,
Finanzminister und Verteidigungsminister anzuklagen. Sie stehen auch dem
Internationalen Strafgerichtshof sehr kritisch gegenüber, wo sie sich gemeinsam
mit Israel gegen den Vorwurf des Völkermords verteidigen.
„Albanese verdient den Friedensnobelpreis“
Zuletzt gab es einen bösartigen Angriff gegen Francesca Albanese, weil sie
aufgedeckt hat, was in Israel vor sich geht, und darauf hingewiesen hat, daß
viele Unternehmen von dem Völkermord in Gaza profitieren. Ich halte sie für eine
äußerst mutige Frau, die den Friedensnobelpreis mehr verdient als diejenigen,
die danach lechzen. Sie verdient ihn für ihren Beitrag zur Verteidigung der
Menschlichkeit und gegen den Völkermord, der dort stattfindet. In ihrem jüngsten
Bericht hat sie überzeugend die Unmoral der Unternehmen in den bürgerlichen
Staaten aufgedeckt. Stellen Sie sich vor: Nicht nur Unternehmen, sondern sogar
Staaten, beispielsweise Pensionsfonds, benutzen diese verzweifelte Zeit, um
daran Geld zu verdienen!
Aber in dieser Dunkelheit, die wir gerade durchleben, keimt wieder Hoffnung
auf und wird entfacht. Dies ist auf ein Erwachen im Globalen Süden hinsichtlich
der systemischen Natur unserer Unterentwicklung zurückzuführen. Die Länder des
Globalen Südens, die jahrzehntelang so tapfer für ihre Unabhängigkeit gekämpft
haben, befinden sich in Armut und bewegen sich von einer Schuldenkrise in die
nächste. Überraschend ist jedoch, daß die Entwicklungsländer, obwohl von der
„Schuldenkrise in den Entwicklungsländern“ die Rede ist, immer noch
Netto-Kapitalgeber für den Globalen Norden sind! Einige Schätzungen gehen sogar
davon aus, daß von 1960 bis heute aufgrund des Mechanismus, mit dem unsere
Länder weiter ausgebeutet werden, netto 152 Billionen Dollar vom Süden in den
Norden geflossen sind.
Wann immer ein Land des Südens versucht, diesen Teufelskreis zu durchbrechen,
sieht es sich mit einer Vielzahl von Sanktionen – ich habe es gerade im
Zusammenhang mit Kuba erwähnt –, Drohungen und militärischen Invasionen
konfrontiert. Ein Beispiel dafür ist die Ermordung von Oberst Gaddafi in Libyen,
weil er versuchte, ein anderes System einzuführen.
Eine Zeit lang schlossen sich die ehemaligen Kolonien in der Bewegung der
Blockfreien Staaten zusammen und übten international einen gewissen Einfluß aus.
Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Länder Osteuropas Ende der 1980er und
Anfang der 1990er Jahre schwand dieser Einfluß jedoch etwas.
Neue Hoffnung
Heute gibt es neue Hoffnung. Sie rührt her von den Entscheidungen von
Brasilien, Rußland, Indien, China und Südafrika. Länder, die entschlossen sind,
ihre Unabhängigkeit zu wahren und ihre Souveränität zu verteidigen, haben sich
zusammengeschlossen, um einen neuen Entwicklungsweg zu beschreiten, der
gerechter ist und den Reichtum der Welt fairer verteilt.
Der Kontrast zwischen der Politik dieser Länder und der Politik der
westlichen Länder, die ihre derzeitige Politik dazu nutzen, um zu erpressen und
Kriege zu schüren, ist deutlich: Hier versuchen sie, Wohlstand zu schaffen. Denn
sie haben erkannt, daß Wohlstand neutral sein muß. Wir können nicht
weitermachen, wenn ein Teil der Welt in bitterer Armut lebt und ein anderer Teil
auf Kosten des anderen in Reichtum schwelgt.
Das ist der Vorschlag des Schiller-Instituts: Wohlstand für alle zu schaffen,
damit wir uns alle gemeinsam entwickeln können. Das ist meiner Meinung nach der
Gedanke hinter Chinas Gürtel- und Straßen-Initiative, die den Ländern des
Globalen Südens neue Möglichkeiten eröffnet. Auf diese Win-Win-Philosophie und
diesen gegenseitige Nutzen müssen wir meiner Meinung nach hoffen. In diesem
Prozeß entstehen neue Institutionen wie die BRICS-Bank, und hoffentlich auch
andere Institutionen, die sich für Gerechtigkeit einsetzen und Kriege
verhindern, indem sie mehr Entwicklung ermöglichen.
Wir müssen uns jedoch weiterhin vor allen Machenschaften des Westens hüten.
Oftmals nutzen sie den neu gewonnenen Reichtum in Ländern, um Spannungen
zwischen verschiedenen Ländern zu schüren, damit sie mehr Waffen verkaufen
können. Sie beuten also nicht nur die Ressourcen dieser Länder aus, sondern
verkaufen ihnen auch Waffen, damit sie sich gegenseitig zerstören.
Ich hoffe, daß der Globale Norden die Entwicklungen in den BRICS-Staaten
nicht als Bedrohung für sich selbst versteht, in dem Sinne, daß sie darauf
abzielen, seinen Wohlstand zu zerstören. Ich glaube nicht, daß das der Fall ist.
Ich hoffe, daß es im Westen Führungen geben wird, die darin die Chance sehen,
eine Partnerschaft mit den BRICS-Ländern einzugehen, um den Globalen Süden bei
seiner Entwicklung zu unterstützen und die Voraussetzungen für seinen Wohlstand
zu schaffen.
Bis dahin möchte ich sagen, daß wir unsere Bemühungen um Solidarität
verdoppeln müssen, ganz besonders mit dem palästinensischen Volk, aber auch mit
dem russischen Volk, das gezwungen ist, militärische Operationen durchzuführen,
um sein Volk und die Welt vor einer vollständigen Übernahme durch die
NATO-Länder zu schützen.
Ich möchte meine Position bekräftigen, daß Rußland das gleiche Recht auf
Sicherheit hat wie jeder andere Staat, und daß dieses Recht die Ursache für die
aktuellen Ereignisse ist. Ich möchte auch sagen, daß wir für die Verteidigung
der internationalen Institutionen und der vielen mutigen Menschen, die dort
tätig sind, wie Francesca Albanese, kämpfen müssen. Wir müssen sie und ihre
großartige Arbeit und ihren Beitrag verteidigen, den sie nicht nur als Teil
ihrer Arbeit leistet, sondern als Beitrag für unsere gesamte Menschheit. Sie
rettet uns vor der Zerstörung dessen, was uns zu Menschen macht.
Ich möchte noch einmal allen Teilnehmern gratulieren, die sich für eine
bessere Welt einsetzen, und sagen: Wir müssen organisieren, organisieren,
organisieren, um eine bessere Welt zu schaffen! Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit.
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