Schiller, ein nicht-akademischer Lehrer
Von Chérine Sultan
Chérine Sultan ist Mitglied des französischen Schiller-Instituts. Im vierten Abschnitt der Berliner Konferenz „Der Mensch ist nicht des Menschen Wolf!“ am 12. Und 13. Juli 2025 hielt sie den folgenden Vortrag (Übersetzung aus dem Französischen).
Hallo liebe Zuhörer, hallo an alle, die uns aus allen Ecken der Welt folgen,
Kennen Sie die „Zehn unveräußerlichen Rechte des Lesers“? – Das Recht, nicht
zu lesen; das Recht, Seiten zu überspringen; das Recht, ein Buch nicht zu Ende
zu lesen; das Recht, es wieder zu lesen; das Recht, alles zu lesen; das Recht
auf Bovarismus (eine durch Text übertragbare Krankheit);1 das Recht,
überall zu lesen; das Recht, zu kritisieren; das Recht, laut zu lesen; das
Recht, zu schweigen? (Daniel Pennac, Comme un roman)
Daniel Pennac ist ein französischer Schriftsteller, geboren 1944. Mit 25
Jahren wurde er Literaturprofessor. Hätte er den üblichen Karriereweg
eingeschlagen, wäre er vielleicht Taxifahrer oder Illustrator geblieben.
Tatsächlich war er eher ein Schüler, den man als „Faulpelz” bezeichnen könnte.
Seine Ausbildung war definitiv nicht für eine Lehrerkarriere prädestiniert.
Dennoch blieb er 26 Jahre lang Lehrer, bevor er sich ganz dem Schreiben
widmete.
Als Kind schwankte seine Liebe zum Lesen trotz seiner schweren
Lernschwierigkeiten nie. Im Gegenteil, Bücher waren sein Zufluchtsort. Später
entwickelte er eine noch größere Leidenschaft dafür, diese Tätigkeit
weiterzugeben.
Ich persönlich habe sie dank meiner Französischlehrerin in einer Berufsschule
nach dem Abitur entdeckt. „Die Schüler in diesem Gebäude... Denen ein Buch zum
Lesen geben? Sie träumen wohl!“ Eine Lehrerin, die auch den Radioclub der Schule
leitete, ließ sich nicht von solchen Vorurteilen aufhalten!
Schade, daß es nicht mehr Lehrer und Lehrerinnen wie sie für Schüler der
„naturwissenschaftlich-mathematischen Richtung“ gab. Bis dahin hatte uns die
Pflicht, Balzac, Molière und Madame de Lafayette zu lesen, nicht wirklich das
Gefühl gegeben, frei zu sein, die Bücher zu lesen, die uns gefielen. Aber das
„Recht, nicht zu lesen“ und das „Recht, alles zu lesen“, waren uns damals ja
auch unbekannt...
Doch mit ein wenig Neugier und Geduld findet man überall und jederzeit
Lehrer, die nicht so akademisch sind. Der große Dichter Friedrich Schiller,
Autor von Die Räuber, Don Carlos und der Ode an die Freude, fuhr
in dieser Hinsicht ebenfalls zweigleisig, als er im Alter von nur 30 Jahren
Professor an der Universität Jena wurde. Am 26. Mai 1789 versprach seine
Antrittsvorlesung „Was heißt und zu welchem Ende studiert man
Universalgeschichte?“ einen solchen Erfolg, daß der ursprünglich gewählte Saal
eine Stunde vorher schon brechend voll war.
Schiller, der angesichts dieser Scharen von Studenten, deren geistiger
Appetit nicht enttäuscht werden sollte, von Lampenfieber geplagt, aber auch
angespornt war, berichtete später von seiner Freude, die Menschenmenge so
wachsen zu sehen, und fühlte sich ziemlich ermutigt.
Nach und nach wuchs die Menge so sehr an, daß Vorraum, Vorhalle und Treppen
überfüllt waren und ganze Gruppen sich aus Platzmangel zurückziehen mußten. Der
Umzug all dieser jungen Menschen in den größten Hörsaal sorgte in der Stadt für
solche Aufregung, daß die Einwohner einen Brand vermuteten! Besorgten Menschen
wurde gesagt: „Das ist der neue Lehrer, der gleich seinen Unterricht hält!“
Während er also seine Vorlesungen in Geschichte und Philosophie fortsetzte,
ging er leidenschaftlich auf die Forderungen der Schüler nach Aufmerksamkeit
ein. Wie Régnier, ein Übersetzer von Schillers Werken ins Französische, in
seiner französischsprachigen Biographie des deutschen Dichters anläßlich des
hundertsten Geburtstags berichtet: „Er wählte zunächst Dienstag und Mittwoch von
18 bis 19 Uhr für seinen Unterricht, um fünf Tage für die Vorbereitung und
andere Arbeiten frei zu haben.“2
Sein Unterricht umfaßte die alte Geschichte bis zu Alexander dem Großen,
daraus stammen die folgenden berühmten Aufsätze: Etwas über die erste
Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde; Die Sendung
Moses; Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon.
In diesem Zusammenhang möchte ich Régniers Zeugnis zitieren:
„Diese Werke sind voller genialer Ideen und in einem nüchternen, einfachen
Stil geschrieben: Man spürt darin den guten Einfluß des Unterrichts. In den
ersten beiden läßt der Autor, wie man es von ihm aufgrund dessen, was wir
bereits über ihn wissen, erwarten kann, seinem Geist als sehr freier Denker
freien Lauf und zeigt, wie so viele andere auch, wenn ich mich nicht irre, wie
machtlos der Rationalismus ist, wenn er alles erklären und interpretieren, alle
Schleier lüften, alle Dunkelheiten durchdringen und alle Geheimnisse aufklären
will; aber zumindest mischt er in seine Darstellung nichts von jener
Leichtfertigkeit, die in solchen Dingen allzulange in Mode war.
Die Abhandlung über die beiden großen Gesetzgeber von Sparta und Athen würde,
glaube ich, einen Gelehrten oder Philosophen aus der Sicht der modernen
Wissenschaft nicht zufriedenstellen; aber trotz der auffälligen Übertreibungen
und Engstirnigkeit, denen Halbwissen kaum entgeht, liest sie sich mit Vergnügen
wie alles, was mit Witz und Originalität geschrieben ist. Was dem Dichterlehrer
vor allem fehlte, war diese allgemeine Vorbereitung, diese solide, langsam
gereifte Bildung, die durch noch so mühsame, täglich und für den Anlaß
durchgeführte Recherchen nicht ersetzt werden kann: Es war zu offensichtlich,
wie Zeitzeugen berichten, daß er oft erst am Vortag wußte, was er
unterrichtete.
Seine Fantasie, seine leuchtenden Einsichten verführten junge Menschen, die
sowohl über seinen schwäbischen Akzent als auch über seinen übertrieben
rhetorischen Stil hinwegsehen konnten und denen es zweifellos nichts ausmachte,
daß er seinen Geschichtsunterricht manchmal in eine Redekunststunde
verwandelte.“
Viele werden beim Lesen denken, daß es tatsächlich einer „langsam gereiften“
Vorbereitung bedarf, wie Régnier andeutet. Und vielleicht werden einige von
Ihnen denken, daß ein Lehrer, der seine Energie und Phantasie einsetzt, um die
Mängel seiner hastigen Recherchen auszugleichen, gegen die Berufsethik verstößt.
Ja, natürlich. Aber andererseits ist die Leidenschaft für Ideen und menschliche
Kulturen meiner Meinung nach der wichtigste Treibstoff in diesem Beruf.
Perfektion in der Analyse kann niemals erreicht werden. Und obwohl die
Genauigkeit des Ziels das Leitprinzip bleiben muß, darf sie niemals den Wunsch
zum Handeln dämpfen oder Menschen in den Glauben versetzen, daß es unmöglich
ist, die Menschheit zu verstehen.
Mit diesen Überlegungen möchte ich das Engagement junger Menschen für die
Gestaltung der nächsten 50 Jahre fördern, sie dazu anregen, sich von den großen
Autoren inspirieren zu lassen und großartige historische und philosophische
Forschungen zu betreiben. Solange Sie sich auf den ungeduldigen Blick künftiger
Generationen stützen, wie Schiller, kann kein Akademiker oder anderer Experte
mit „gutgemeinten” Korrekturen Ihrer „Fehler” und „Ungenauigkeiten” Ihren
Enthusiasmus trüben können.
Anmerkungen
1. Bovarismus: Auch bekannt als das Madame-Bovary-Syndrom: „Ein Gefühl der
Unzufriedenheit mit der eigenen sozialen Lage und dem eigenen Gefühlsleben, das
dazu führt, daß man in Romanen oder in der Fantasie Zuflucht sucht.” (Quelle: cnrtl.fr – Centre National de
Ressources Textuelles et Lexicales)
2. Louis Adophe Régnier, Vie de Schiller.
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