Shakespeare und Sinneswahrnehmung:
Entscheidend ist das, was man nicht sieht
Von Kynan Thistlethwaite
Kynan Thistlethwaite ist Mitglied des amerikanischen
Schiller-Instituts. Im vierten Abschnitt der Berliner Konferenz „Der Mensch ist
nicht des Menschen Wolf!“ am 12. Und 13. Juli 2025 hielt er den folgenden
Vortrag (Übersetzung aus dem Englischen).
Vielen Dank. Ich möchte für die politische Situation, mit der wir heute
konfrontiert sind, eine Lehre aus Shakespeare ziehen. Es ist sinnvoll, etwas
Abstand zu nehmen und die gesamten letzten 25 Jahre zu betrachten, in denen
endlose imperiale Kriege geführt wurden, unter dem Deckmantel der Verteidigung
der Menschenrechte und der Wahrung des Völkerrechts, das, wie wir alle wissen,
so gut wie tot ist. General Wesley Clark sagte in einem Interview mit Amy
Goodman in ihrer Sendung „Democracy Now“, daß jemand ihm im Herbst 2001, kurz
nach dem 11. September, ein geheimes Memo zeigte, in dem Regimewechselkriege in
sieben Ländern über einen Zeitraum von fünf Jahren vorgeschlagen wurden. Auf der
Liste standen: Irak, Syrien, Libanon, Libyen, Somalia, Sudan und zuletzt Iran.
Als General Clark ein Jahr später denselben Offizier danach fragte, antwortete
der: „Sir, ich habe Ihnen dieses Memo nicht gezeigt! Ich habe es Ihnen nicht
gezeigt!“
Trotzdem ließen sich viele Menschen von den angeblichen Beweisen für Saddam
Husseins Massenvernichtungswaffen überzeugen, und jetzt wird genau das gleiche
über den Iran erzählt.
Diese Art der Massengehirnwäsche und Propaganda ist nur deshalb so wirksam,
weil in der Kultur unserer Gesellschaft etwas tief verwurzelt ist, das uns unser
Urteil eher auf Sinneseindrücke stützen läßt als auf unser Denken.
Wie können wir uns vom falschen Vertrauen in unsere Sinneswahrnehmungen
heilen? Um sich in politischen Fragen effizient zu bilden und Kompetenz zu
erlangen, empfiehlt Lyndon LaRouche in seinem Essay „Politik als Kunst“, die
klassischen Werke Shakespeares und seines Nachfolgers Schiller zu studieren, die
nicht bloße Fiktion seien, sondern „authentische und inspirierende Darstellungen
des Wesens der spezifischen Krisen in der realen Geschichte, auf die sich diese
Werke beziehen“.
Nehmen wir zum Beispiel Shakespeares große historische Dramen, er schrieb
davon acht, die die Regierungszeit der englischen Monarchen von König Johann bis
Heinrich VIII. behandeln. Der Großteil dieser Stücke, über die Regierungszeit
von Edward III. bis Heinrich V., spielt während des Hundertjährigen Krieges
zwischen England und Frankreich. Shakespeare stellt in diesen Stücken sehr
spannende Fragen, mit denen die Menschheit konfrontiert ist: Was ist ein
gerechter Krieg? Welche Rolle spielt der einzelne bei der Gestaltung der
Geschichte? Wie baut man einen dauerhaften, erfolgreichen modernen Nationalstaat
auf?
Zu Beginn seines Stücks Heinrich V. erscheint „Chorus“ auf der Bühne
und fordert die Zuschauer auf, ihre Vorstellungskraft zu nutzen, anstatt blind
ihren Sinnen zu vertrauen. Was man sieht – die Handlung, die Kulisse, die
Figuren usw. –, sind alles Elemente des Stücks, die aber nicht zur
übergreifenden Idee des Ganzen führen. Die gleiche Aufgabe hat schon der Chor in
der antiken griechischen Tragödie von Aischylos, Sophokles und Euripides. Chorus
beginnt:
Oh! eine Feuermuse, die hinan
Den hellsten Himmel der Erfindung stiege!
Ein Reich zur Bühne, Prinzen drauf zu spielen,
Monarchen, um der Szene Pomp zu schaun!
Dann käm, sich selber gleich, der tapfre Heinrich
In Marsgestalt; wie Hund' an seinen Fersen
Gekoppelt, würde Hunger, Feur und Schwert
Um Dienst sich schmiegen. Doch verzeiht, ihr Teuren,
Dem schwunglos seichten Geiste, ders gewagt,
Auf dies unwürdige Gerüst zu bringen
Solch großen Vorwurf. Diese Hahnengrube,
Faßt sie die Ebnen Frankreichs? Stopft man wohl
In dieses Rund von Holz die Helme nur,
Wovor bei Azincourt die Luft erbebt?
O so verzeiht, weil ja in engem Raum
Ein krummer Zug für Millionen zeugt,
Und laßt uns Nullen dieser großen Summe,
Auf eure einbildsamen Kräfte wirken!
Denkt euch im Gürtel dieser Mauern nun
Zwei mächtge Monarchien eingeschlossen,
Die, mit den hocherhobnen Stirnen dräuend,
Der furchtbar enge Ozean nur trennt.
Ergänzt mit dem Gedanken unsre Mängel,
Zerlegt in tausend Teile einen Mann
Und schaffet eingebildte Heereskraft.
Denkt, wenn wir Pferde nennen, daß ihr sie
Den stolzen Huf seht in die Erde prägen;
Denn euer Sinn muß unsre Kön'ge schmücken.
Bringt hin und her sie, überspringt die Zeiten,
Verkürzet das Ereignis manches Jahrs
Zum Stundenglase. Daß ich dies verrichte,
Nehmt mich zum Chorus an für die Geschichte,
Der als Prolog euch bittet um Geduld;
Hört denn und richtet unser Stück mit Huld!
Der Dichter fordert Sie also auf, Ihre Gedanken über das hinaus zu führen,
was auf der Bühne dargestellt wird. Lyndon LaRouche hat viel über die Bedeutung
des Prologs zu Heinrich V. geschrieben, der seiner Meinung nach der
Schlüssel zum Verständnis des gesamten Stücks ist. In „Politik als Kunst“
schreibt er, daß viele Menschen, die das Grundprinzip des klassischen Dramas
nicht verstehen, der Illusion unterliegen, daß „das Geheimnis des Erfolgs dieses
Mediums in der Schaffung von Illusionen liegt“. Er erklärt:
„Die Kunst der Illusion, des ,Zauberns‘ besteht darin, den Sinnen des
Publikums einen Streich zu spielen, ohne einen anderen unmittelbaren Zweck zu
verfolgen, als Dinge anders erscheinen zu lassen, als sie sind. Beispiele
hierfür sind billige Effekthascherei, wie man sie typischerweise in
Hollywood-Science-Fiction-Unsinn und in ein paar aktuellen Wahlkämpfen führender
Präsidentschaftskandidaten findet.
Im Gegensatz dazu folgt die klassische Bühne der klassischen Poesie und den
homerischen Epen, indem sie ein Bild erzeugt, in dem das Publikum die wirkenden
Faktoren erkennt, die für die Sinne als solche nicht greifbar sind, aber
tatsächlich den Ausgang der dargestellten Ereignisse bestimmen. Dazu stützen
sich der Dramatiker und die Darsteller auf Methoden, von denen diese Fähigkeit
abhängt, das Bild solcher Faktoren auf einer Art von Bühne zu rekonstruieren,
die nur im Kopf jedes Zuschauers entsteht, und zwar ohne die Hilfe von Tricks im
Sinne der Definition von Illusion.“
Das klassische Drama soll also nicht reale Ereignisse auf einer Bühne
darstellen, sondern, wie Lyn sagt, die Aufmerksamkeit des Publikums auf das
lenken, was in den Köpfen der Figuren auf der Bühne vor sich geht.
Ich möchte diesen Gedanken der Vorstellungskraft, des Hinausgehens über die
reine Sinneswahrnehmung, näher ausführen. Eine ausführlichere Behandlung findet
er in einer anderen berühmten „Komödie“ Shakespeares: Der Kaufmann von
Venedig.
Die Handlung des Stücks ist bekannt. Um seinem Freund Bassanio zu helfen,
leiht sich ein katholischer venezianischer Kaufmann, Antonio, Geld von dem
jüdischen Geldverleiher Shylock. Das Geschäft läuft aber nicht so glatt wie
gedacht, weil Shylock das Geld nur unter der Bedingung verleiht, daß Antonio,
falls er seine Schulden nicht begleichen kann, mit einem Pfund Fleisch aus
seinem Körper bezahlen muß. Zu Antonios Unglück kann er das Geld Shylock nicht
zurückzuzahlen, der sich in seiner Wut über die heuchlerische „christliche“
Gesellschaft, die das Judentum voll Verachtung und Hass behandelt, an Antonio
rächen und ein Pfund Fleisch aus ihm herausschneiden will.
In der berühmten Gerichtsszene rettet die reiche Erbin Portia Antonio das
Leben, indem sie sich als Mann verkleidet und die Rolle eines Anwalts
übernimmt.
Wir werden später noch zu dieser Szene kommen. Aber betrachten wir zunächst
Portias Heirat mit einem ihrer vielen Freier. Die Vorgeschichte ist, daß Portias
Vater gestorben ist, ohne seine Tochter verheiraten zu können. Er hat ihr ein
beträchtliches Vermögen hinterlassen und möchte nur das Beste für sie. Da er
nicht selbst entscheiden kann, wen seine Tochter heiraten soll, hat er für
potentielle Freier drei Truhen anfertigen lassen: eine aus Gold, eine aus Silber
und eine aus Blei. In einer davon ist Portias Bildnis, und die muß der Freier
wählen, um sie heiraten zu dürfen. Sonst darf er sein Leben lang nicht heiraten.
(2. Akt, 7. Szene)
Auf der goldenen Truhe steht: „Wer mich erwählt, gewinnt, was mancher Mann
begehrt.“
Auf der silbernen: „Wer mich erwählt, bekommt soviel, als er verdient.“ Und
auf der aus Blei: „Wer mich erwählt, der gibt und wagt sein Alles dran.“
Der kluge Bassanio läßt sich nicht von der äußeren Erscheinung der goldenen
und silbernen Truhen täuschen, sondern wählt die bleierne, nachdem die früheren
Freier gescheitert sind. Drinnen entdeckt er Portias Porträt und die folgende
Botschaft (3. Akt, 2. Szene):
„Ihr, der nicht auf Schein gesehn:
Wählt so recht und trefft so schön!
Weil Euch dieses Glück geschehn,
Wollet nicht nach anderm gehn.
Ist Euch dies nach Wunsch getan
Und findt Ihr Heil auf dieser Bahn,
Müßt Ihr Eurer Liebsten nahn,
Und sprecht mit holdem Kuß sie an.“
Es ist klar, daß Portias Vater die wichtigste Eigenschaft eines Mannes
erkannte, der eine Ehe eingeht: die Bereitschaft, Risiken einzugehen und sich
zum Besseren zu verändern. Wenn man ernsthaft über eine Heirat nachdenkt,
verspürt man eine gewisse Anspannung. Es herrscht Unsicherheit und Angst vor
dem, was die Zukunft bringen mag. Man kann es nicht sehen, hören oder fühlen,
aber man kann sich durchaus eine Vorstellung von der Zukunft machen und sich
darauf einlassen. Die materiellen Vorteile, die man erhalten kann – ein großes
Erbe, viel Reichtum usw. –, sind allesamt nichts im Vergleich zu der
tiefgründigen Botschaft in der Bleitruhe.
Aber es ist auch ironisch, daß Bassanio später im Stück, nachdem Portia
Antonio gerettet hat, selbst strauchelt, wo er zuvor erfolgreich war. Portia,
verkleidet als Anwalt, bittet Bassanio um den Ring, den er niemals wegzugeben
versprochen hatte. Weil er Portia nicht erkennt und dem Rechtsgelehrten, der
gerade das Leben seines Freundes gerettet hat, sehr dankbar ist, gibt Bassanio
den Ring weg. Damit bricht er nicht nur sein Versprechen gegenüber Portia, er
läßt sich auch vom äußeren Anschein täuschen.
Das ist nur eine der vielen Paradoxien in diesem Stück, die Shakespeare uns
zum Nachdenken hinterlassen hat. Mit diesem Paradoxon im Hinterkopf wenden wir
uns nun einer der schönsten Szenen in Shakespeares gesamtem Werk zu, nämlich der
Intervention der edlen Portia, um Antonios Leben zu retten. Als Beispiel für
Schillers „schöne Seele“ ist Portia dem höheren Prinzip der Liebe zur Menschheit
und zum Guten verpflichtet und hebt sich von ihren venezianischen Kollegen
dadurch ab, dass sie keine Hintergedanken hat.
Sie beginnt, indem sie feststellt, daß Shylocks Anspruch nach venezianischem
Recht nominell gültig ist. Er muß, wie es das Gesetz vorschreibt, von Antonio
„ein Pfund Fleisch“ für die Nichtrückzahlung seiner Schulden erhalten. Portia
weist aber auf ein sehr wichtiges Detail hin, nämlich daß Shylock nur ein Pfund
Fleisch und nichts mehr verlangen darf. Mit Portias Worten (4. Akt, 1.
Szene):
Wart noch ein wenig: Eins ist noch zu merken!
Der Schein hier gibt dir nicht ein Tröpfchen Blut;
Die Worte sind ausdrücklich: ein Pfund Fleisch!
Nimm denn den Schein, und nimm du dein Pfund Fleisch;
Allein vergießest du, indem du's abschneidst,
Nur einen Tropfen Christenblut, so fällt
Dein Hab und Gut nach dem Gesetz Venedigs
Dem Staat Venedigs heim.
Damit ist Shylocks rechtliches Argument allein durch die wörtliche Auslegung
der Gesetze Venedigs zunichte gemacht. Daß Shakespeare es auf diese Weise tut,
ist schon brillant, denn das ist kein Deus ex machina, den Shakespeare
für ein Happy End einführt. Vielmehr ist es eine Lektion in Wirtschaft und eine
Polemik gegen den Empirismus: Wenn ein Gesetz ungerecht ist, aber der Verfasser
zu nachlässig war, dessen Umsetzung zu präzisieren, kann man eben dieses Gesetz
nutzen, um ein gerechtes Ergebnis zu erzielen.
Das zu entscheiden, liegt allein in der eigenen Vorstellungskraft,
insbesondere wenn unsere Absicht in den Naturgesetzen wurzelt. Wie Lyndon
LaRouche sagen würde: Poesie ersetzt Mathematik, und wahre
Wirtschaftswissenschaft basiert nicht auf Finanzen, Schulden und Gelderwerb,
sondern auf dem Gemeinwohl und dem heiligen Wert jedes Menschen in der
Gesellschaft.
Das ist das Schöne an Shakespeares Kaufmann von Venedig. Wir können
mit dem ungerecht behandelten, aber extrem fehlgeleiteten Shylock
sympathisieren, der unter der Strategie „Teile und herrsche“ des venezianischen
Reiches leidet, aber es gibt ein viel höheres Prinzip der Liebe, Menschlichkeit
und Gerechtigkeit, das in Portias Intervention zum Ausdruck kommt. Über dieses
höhere Prinzip der Barmherzigkeit, besser bezeichnet als „Agape“, sagt Portia
(4. Akt, 1. Szene):
Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang.
Sie träufelt wie des Himmels milder Regen
Zur Erde unter ihr; zwiefach gesegnet:
Sie segnet den, der gibt, und den, der nimmt;
Am mächtigsten in Mächtgen, zieret sie
Den Fürsten auf dem Thron mehr als die Krone.
Das Zepter zeigt die weltliche Gewalt,
Das Attribut der Würd und Majestät,
Worin die Furcht und Scheu der Kön‘ge sitzt.
Doch Gnad ist über diese Zeptermacht,
Sie thronet in dem Herzen der Monarchen,
Sie ist ein Attribut der Gottheit selbst,
Und irdsche Macht kommt göttlicher am nächsten,
Wenn Gnade bei dem Recht steht.
So müssen wir heute handeln. Wie Helga immer sagt, müssen wir kriegerische
Engel für die Zukunft sein und mit dem eingreifen, was Martin Luther King Agape
nennen würde, um den Gang der Welt hin zum Aufbau einer neuen Sicherheits- und
Entwicklungsarchitektur zu ändern.
Laßt uns also, wie Präsident Lincoln sagen würde, „mit Bosheit für niemand
und Nächstenliebe für alle“ die Wunden der Welt heilen. Die schöne Schatzkammer
großer klassischer Werke von Shakespeare, Schiller, Rabelais, Erasmus und Dante
wird uns bei unserer Arbeit helfen. Unterschätzt sie also nicht!
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