Von einer unipolaren Ordnung zu einer besseren,
multipolaren internationalen Ordnung
Zhang Weiwei, Professor für Internationale Beziehungen an der
Fudan-Universität in Shanghai, sprach in der Eröffnungsrunde der internationalen
Konferenz des Schiller-Instituts vom 24.-25. Mai „Eine schöne Vision für die
Menschheit in Zeiten großer Turbulenzen“. Er ist Direktor des China-Instituts an
der Fudan-Universität und einer der prominentesten Denker Chinas. Er ist Autor
zahlreicher Bücher, darunter eine Bestseller-Trilogie über sein Land, deren
letzter Band „The China Horizon: Glory and Dream of a Civilizational State“ (Der
Horizont Chinas: Ruhm und Traum eines Zivilisationsstaates) im Mai 2016
erschien. Prof. Zhang sprach in der ersten Konferenzsitzung zum Thema
„Strategische Herausforderungen und die entstehende neue Ordnung“. Die Rede
wurde leicht bearbeitet aus dem Englischen übersetzt und mit zusätzlichen
Untertiteln versehen.
Vielen Dank, Frau LaRouche, für die freundliche Einladung, auf diesem
wichtigen Forum zu sprechen. Hallo zusammen, ich grüße Sie aus Shanghai und
China.
Ich werde zunächst eine allgemeine Bemerkung zur sich wandelnden Weltordnung
machen und dann versuchen, kurz drei „Fallstudien“ vorzustellen, um einige
positive Aspekte aus Asien und China für die Neugestaltung der Weltordnung
aufzuzeigen.
Zunächst zu dem Wandel von der Unipolarität zur Multipolarität: Meiner
Meinung nach ist diese multipolare Welt bereits Realität. Wenn man das
Gesamt-BIP der BRICS-Staaten mit dem der G7-Staaten vergleicht, sind die
BRICS-Staaten bereits größer als die G7. Das ist also die Realität. Der
entscheidende Punkt ist jedoch, daß die multipolare Weltordnung erst im Aufbau
begriffen ist. Wir alle sollten unseren Beitrag leisten, um diese neue Ordnung
zu schaffen: eine gerechtere, demokratischere, entwicklungsfreundlichere,
friedlichere und kooperativere Ordnung. Das ist nicht einfach, aber wir sollten
es versuchen und uns sehr darum bemühen.
Ich denke in diesem Zusammenhang an die Rolle Chinas, Rußlands und der
Vereinigten Staaten. Wenn man beispielsweise Rußland betrachtet, so ist dessen
Militäroperation in der Ukraine sehr umstritten; dennoch wird das erklärte Ziel
Rußlands, die unipolare Weltordnung zu untergraben oder umzustürzen, weithin
verstanden und sogar von vielen Ländern, insbesondere im Globalen Süden,
unterstützt. Deshalb bezeichne ich Rußland als revolutionär.
Die Rolle Chinas würde ich als reformerisch bezeichnen, in dem Sinne, daß wir
[Chinesen] glauben, diese Ordnung nutzen zu können, um ihre positiven Aspekte zu
fördern, während wir gleichzeitig versuchen, ihre möglichen Mängel zu
minimieren. China ist also ein Reformer. Aber China und Rußland haben ein
gemeinsames Ziel: Wir wollen eine neue Weltordnung schaffen, und wir sind
zukunftsorientiert.
Unter Joe Biden haben die Vereinigten Staaten, dem Vertreter dieser
Unipolarität, diese Unipolarität verteidigt. Doch mit Donald Trump an der Macht
ist offensichtlich, daß er diese Ordnung als eine zu große Belastung für die
Vereinigten Staaten empfindet, weil sie die US-Wirtschaft bremst und zur
Deindustrialisierung führt. Wenn China also ein Reformer und Rußland ein
Revolutionär ist, dann sind die Vereinigten Staaten heute meiner Meinung nach
ein Verräter dieser Ordnung.
Der Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten und China sowie Rußland
besteht darin, daß die Vereinigten Staaten rückwärtsgewandt sind. Donald Trump
setzt auf das Handelsdenken des 19. Jahrhunderts und dann auf das alte
Jalta-System der Großmächte mit Teile und Herrsche in den globalen
Angelegenheiten. Dem sollten wir uns widersetzen.
Das ist also meine allgemeine Beobachtung zum Wandel von der Unipolarität zur
Multipolarität, von einer unipolaren Ordnung zu einer besseren, multipolaren
internationalen Ordnung.
Fallstudie: China und ASEAN
In dieser Zeit großer Turbulenzen möchte ich Ihnen einige gute Nachrichten
aus Asien und China für diese mögliche neue Weltordnung mitteilen. Ich werde
Ihnen drei Fälle als Referenz vorstellen.
Der erste betrifft Asien im Vergleich zu Europa. Ich erinnere mich, daß die
Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2022/23 einen Bericht veröffentlichte, in
dem die Welt als „Lose-Lose-Situation” beschrieben wurde. Fairerweise muß man
sagen, daß es sich um eine Lose-Lose-Situation für Europa handelt, was zum Teil
auf die Rolle der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union (EU)
zurückzuführen ist, die leider ihre Unabhängigkeit verloren hat.
In Asien hingegen, insbesondere in China und der Vereinigung
Südostasiatischer Staaten (ASEAN), bezeichne ich diese Region seit mindestens
vier Jahrzehnten eindeutig als Win-Win-Region. Diese Win-Win-Situation könnte
sozusagen als Vorbild für den Rest der Welt, für die EU und die Vereinigten
Staaten dienen. Denn dieser Win-Win-Erfolg ruht auf drei Säulen: Die erste Säule
ist Entwicklung. Es geht um eine Freihandelszone, in der die Lebensgrundlage
der Menschen an erster Stelle steht. Was auch immer man tut, die Verbesserung
des Lebensstandards der Menschen muß im Mittelpunkt stehen. Jetzt erlebt diese
Region das weltweit schnellste Wirtschaftswachstum. Im Falle Chinas sind es 5%
pro Jahr, was mehr als 30% des globalen Wachstums ausmacht. Mit anderen Worten:
Von jeden zusätzlichen hundert Dollar, um die die Weltwirtschaft wächst, stammen
30 Dollar aus der chinesischen Wirtschaft.
Die zweite Säule der politischen Sicherheit ist, daß China die Neutralität
der ASEAN respektiert. Die ASEAN hat bei verschiedenen Initiativen stets die
Führung inne, wie beispielsweise bei den Sicherheitsdialogen ASEAN+5, ASEAN+10
und ASEAN+3. China hat auch die atomwaffenfreie Zone der ASEAN akzeptiert.
Ein weiterer Pfeiler ist der zivilisatorische Dialog, der sehr wichtig ist.
Wir betonen asiatische Weisheit, chinesische Weisheit, ASEAN-Weisheit,
friedliche Lösung von Streitigkeiten, strategische Geduld: zwei Schritte
vorwärts, einen Schritt zurück – so geht das. Wir brauchen strategische Geduld!
Das können wir schaffen! All dies spielt sich in dieser Region letztendlich ab
und führt zu einer Win-Win-Situation.
Wenn wir das mit dem Verhältnis der EU zu den Vereinigten Staaten als
wichtiger Akteur vergleichen, dann spielt hier für die Vereinigten Staaten wohl
eher die bekannte NATO-Philosophie eine Rolle: Amerika drinnen halten, Rußland
draußen halten, Deutschland klein halten. Aus asiatischer Sicht ist das in Bezug
auf die gesamte Region Europa nicht der richtige Weg. Die europäische Sicherheit
muß die legitimen Sicherheitsinteressen Rußlands berücksichtigen. Soweit mein
erstes Fallbeispiel.
Fallstudie: BRI
Der zweite Fall ist natürlich Chinas BRI, die Belt and Road Initiative [die
Neue Seidenstraße]. Hierin wurden bereits 1 Billion US-Dollar investiert und
über 5000 Projekte im Globalen Süden gestartet. Das zeigt sowohl die Hard Power
als auch die Soft Power des Globalen Südens, insbesondere Chinas. Was die Hard
Power angeht, so bietet China eine Komplettlösung für die Infrastruktur und
viele Projekte im Globalen Süden. Wir haben beispielsweise für einige Länder wie
den Sudan, den Südsudan und Kasachstan petrochemische Industrien von Grund auf
aufgebaut. Innerhalb von drei Jahren ist es gelungen, von der reinen Ölförderung
über Raffinerien bis hin zur petrochemischen Industrie zu kommen. Mit dieser
industriellen Produktionskapazität helfen wir den Ländern des Globalen Südens im
Rahmen der BRI.
Noch wichtiger ist, daß hinter dieser Initiative Chinas Idee steht, die ich
für die neue Weltordnung sehr gut finde: „Gemeinsam diskutieren, gemeinsam
aufbauen, gemeinsam profitieren.“ Mit anderen Worten: Ein Land oder ein
Unternehmen tritt der BRI aus eigener Initiative bei. Niemand zwingt dich oder
drängt dich, sich dieser Initiative anzuschließen. Mit anderen Worten: Es ist
eine Win-Win-Win-Situation für alle Beteiligten. Das ist mein zweites
Beispiel.
Green Deal, Wüstenbegrünung und Oasenplan
Das dritte Beispiel ist vielleicht für viele westliche Länder spannender. Es
geht um Chinas Green Deal. Die gute Nachricht ist, daß China diesen inzwischen
erfolgreich umgesetzt und abgeschlossen hat. Anders gesagt, der Green Deal, wie
wir ihn kennen, wird vor allem in der EU und den westlichen Ländern mit viel
Fanfare beworben, aber bisher wurde dort nicht viel erreicht. In China ist er
umgesetzt.
Heute kostet grüne Energie in China weniger als herkömmliche Energie.
Außerdem sind die Treibhausgasemissionen in einem so großen Land wie China zum
ersten Mal gesunken. Das ist wirklich ein Wunder. Die Treibhausgasemissionen
sind gesunken. Vergessen Sie nicht, daß China die größte Produktionsmacht der
Welt ist, mit 25% der weltweiten Produktion, was bald auf 30% steigen wird. Doch
trotz dieser gesteigerten Produktivität, Industrie und anderen
Fertigungssektoren sind Chinas Treibhausgasemissionen gesunken. Das ist
hauptsächlich dem Ausbau erneuerbarer Energien zu verdanken: Solarenergie,
Windkraft und andere. China ist heute der größte Produzent von
Elektrofahrzeugen, Solarzellen und erneuerbaren Energien.
Ein weiteres konkretes, sehr wichtiges Beispiel, das Frau LaRouche immer
wieder erwähnt hat, ist die großartige Idee des Oasenplans. Ich glaube, dieses
Konzept ist bereits in den 1970er Jahren entstanden.
In diesem Zusammenhang wurde in China ein vielversprechendes Projekt mehr
oder weniger erfolgreich umgesetzt. Es nennt sich Taklamakan-Wüstenprojekt.
Diese Wüste liegt in der autonomen Region Xinjiang in China. Sie ist riesig,
fast so groß wie Deutschland, dreimal so groß wie Südkorea. Aber die Wüste wurde
jetzt mit einem Grüngürtel umgeben, so daß sich die Sandstürme nicht mehr
außerhalb dieses Grüngürtels ausbreiten können. Und innerhalb dieses Grüngürtels
hat China zahlreiche Aufforstungs- und andere ökologische Sanierungsprojekte
durchgeführt.
Ich kann Ihnen einige Beispiele nennen: China hat 1,2-1,3 Millionen
Solarmodule gebaut, die in dieser Region installiert wurden. Diese sogenannten
Photovoltaik-Farmen nutzen die Sonneneinstrahlung zur Stromerzeugung. Außerdem
kann man in den schattigen Bereichen dieser Solarmodulfarmen dürreresistente
Pflanzen anbauen. Das ist sehr wichtig. Diese grüne Wirtschaft existiert nun
dort. Wüste wird zu Ackerland, Wüsten werden zu Zentren grüner Energieerzeugung
– all das gibt es bereits. Hinzu kommen Wassermanagementsysteme: alle möglichen
Methoden, um Wasser zu sparen und Pflanzenarten zu züchten, die mit weniger
Wasser auskommen. Das ist sehr positiv.
Wenn man sich die Krisen in Westafrika und im Nahen Osten ansieht, haben
viele dieser Krisen mit Wasserknappheit, Wüstenbildung usw. zu tun. Aber jetzt,
mit Solarenergie und Entsalzung – was viel Strom erfordert –, können wir das mit
Solarzellen und erneuerbarer Energie erreichen. Wir haben die Technologie, wir
haben das technische Know-how.
Ich denke also, wenn wir Frieden und Entwicklung in Westafrika und in Nahost
erreichen können – ich weiß, daß das sehr schwierig ist –, aber wenn wir früher
oder später, und hoffentlich früher, wieder eine Art Frieden und gemeinsame
Entwicklungsziele erreichen können, dann hat zumindest China das technische
Know-how und den politischen Willen und verschiedene bewährte Verfahren und
Technologien, um diesen grünen Oasenplan in die Tat umzusetzen.
Natürlich brauchen wir die Voraussetzungen, für die wir alle sehr hart
arbeiten, um den Frieden in dieser Region wiederherzustellen, speziell im Nahen
Osten und in Westafrika und jetzt vor allem im Nahen Osten.
Das war meine kurze Präsentation. Mit diesem etwas erfreulicheren Aspekt für
alle möchte ich meine Rede beenden. Vielen Dank.
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