"Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen.
Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst."
Friedrich Schiller
  Afrika

Falsche Brüder: Tunesien und der IWF

Von Ramtanu Maitra

Manche Beobachter sind überrascht, daß der Westen die durch den „Arabischen Frühling“ an die Macht gekommenen Regierungen der Moslem-Bruderschaft unterstützt. Tatsächlich unterwerfen sich diese wie ihre gestürzten Vorgänger bereitwillig dem Diktat des Weltwährungsfonds - und nur darauf kommt es dem Westen an.

Bisher konnte Tunesiens Ministerpräsident Ali Larajedh von der demokratisch gewählten islamistischen Ennahda-Partei die laute Forderung der Öffentlichkeit nach dem Rücktritt seiner Regierung abwehren, aber die Lage bleibt im Fluß und die schwache Regierung könnte jederzeit fallen. Am 30. Juli forderte Tunesiens größte Gewerkschaft, die Tunesische Allgemeine Arbeiterunion (UGTT), die Ablösung der von Islamisten geführten Regierung durch eine technokratische Verwaltung. Einen Tag zuvor hatte die weltliche Partei Ettakatol, ein kleinerer Koalitionspartner in der Regierung Larajedh, mit ihrem Rückzug gedroht, falls keine neue Regierung der nationalen Einheit gebildet würde.

Am 7. August wurde das Übergangsparlament aufgelöst. Der größte Schock für die regierende Ennahda-Partei, den tunesischen Zweig der Muslim-Bruderschaft (MB), ist vielleicht, daß dieser letzte Schlag von einem ihrer eigenen weltlichen Verbündeten kam - ein Zeichen der zunehmenden Polarisierung zwischen islamistischen und weltlichen Kräften, worüber die Regierung jederzeit stürzen kann.

Die etablierten Medien verbreiten, die jüngste Krise sei eine ideologische Auseinandersetzung zwischen Islamisten und Nicht-Islamisten, die sich lautstark bemerkbar machen, seit kürzlich zwei führende gemäßigte Politiker von mutmaßlichen Islamisten ermordet wurden: Chokri Belaid am 6. Februar und Mohamed Brahmi am 25. Juli. In Wirklichkeit protestieren die Tunesier aber gegen die verheerende Wirtschaftslage, für die erst der gestürzte langjährige Staatsführer Zine el-Abidine Ben Ali (1987-2011) und dann seit ihrem Machtantritt 2012 nach der Revolution die Ennahda-Partei verantwortlich ist. Eine aufschlußreiche Gemeinsamkeit des tyrannischen Regimes des Ben-Ali-Clans und der Herrschaft der Muslimbrüder ist, daß sich beide bei der Organisation der Wirtschaft auf den Internationalen Währungsfonds (IWF) stützen.

In dieser Hinsicht ist Tunesien kein Einzelfall. Auch in Ägypten hat der Führer der Muslimbrüder und frühere Präsident Mohamed Mursi, der in den USA ausgebildet und von Washington unterstützt wurde, eine Einigung mit dem IWF gesucht und erhalten, die mit einer Fülle von Bedingungen und Beschränkungen verbunden war. In Pakistan, wo die Dschihadisten sämtliche Institutionen unterwandert haben, tut Ministerpräsident Nawaz Sharifs Finanzminister und enger Vertrauter Ishaq Dar alles, um die IWF-Bosse zu einem Kredit zu bewegen, der Pakistan nur schaden würde.

Mit anderen Worten, die Muslimbrüder und andere Dschihadisten, die kaum etwas darüber wissen, wie die internationalen Finanzinstitutionen Kredite benutzen, damit der Westen Regierungen in die Knie zwingen kann, zeigen ihre Abhängigkeit von den IWF-Weltbank-Räubern ganz offen.

Nicht zu übersehende Verbindung

Hinzu kommt, daß die Bruderschaft sich schon länger den westlichen Geheimdiensten angenähert hat, um ihre Sache bei den internationalen Finanzinstitutionen und Banken zu fördern, die als Hauptstütze der gegenwärtigen Weltordnung eng mit den Geheimdiensten der maßgeblichen Nationen zusammenarbeiten.

Ein Beispiel ist Rachid Ghannouchi, der intellektuelle Führer der Ennahda-Partei. Ghannouchi kehrte nach Tunesien zurück, um die Parteiführung zu übernehmen, nachdem er 22 Jahre freiwillig im Exil in Großbritannien gelebt hatte. In dieser Zeit wurde Ghannouchi in England eine Berühmtheit. 2012 überreichte Prinz Andrew, Herzog von York, ihm (zusammen mit dem tunesischen Präsidenten Moncef Marzouki) den Chatham-House-Preis für „die erfolgreichen Kompromisse, die beide während Tunesiens demokratischem Übergang erreichten“. Chatham House lobte Scheich Ghannouchis „Rolle bei der Förderung der Kompatibilität des Islam mit Demokratie und Modernität, ein Beitrag, der eine Kultur der Toleranz und des Brückenbaus über das politische Spektrum hin fördert“.

Chatham House, mit anderem Namen Royal Institute of International Affairs (RIIA), agiert als ein Arm der britischen Regierung über seine Verbindungen zu Forschungs- und Studienzentren in anderen Ländern. Diese Zentren werden dann zu Kanälen für die Umsetzung der britisch-imperialen Politik.

Ghannouchis Verbindung zum britischen Geheimdienst trat nochmals in Erscheinung, als die Vertretung der Bruderschaft in England, die Muslim Association of Britain (MAB), ankündigte, der tunesische MB-Führer sei zu ihrer Konferenz „Hoffnung schaffen“ am 17. Dezember 2011 als Gastredner geladen. Ein weiterer Redner der Konferenz war Robert Lambert, der als Beamter der Sonderabteilung des britischen Geheimdienstes 26 Jahre lang Operationen einer verdeckten Einheit geleitet hatte, mit der Polizeispitzel in politische Kampagnen in Großbritannien eingeschleust wurden, u.a. solche, die scheinbar von Anti-Rassismus-Gruppen geführt wurden.

Lambert schrieb am 5. Dezember 2011 in einem Artikel im New Statesman: „Britannien kann stolz darauf sein, daß es in den letzten drei Jahrzehnten als sicherer Hafen für Mitglieder und Anhänger der Muslim-Bruderschaft gedient hat. Viele entgingen Gefängnis und Folter in Ländern unter korrupten Diktatoren, die vom Westen bis zum Arabischen Frühling stark unterstützt wurden. Nun kehren einige in ihre Heimatländer zurück, um dabei zu helfen, neue Demokratien und Bollwerke gegen zukünftige Diktaturen in der arabischen Welt aufzubauen.“

Wirtschaftskrise reif für IWF-Machtübernahme

Die Arbeitslosigkeit in Tunesien liegt bei 17%, genauso hoch wie am Ende von Ben Alis Herrschaft. Im Landesinnern und unter jungen Universitätsabsolventen beträgt die Arbeitslosigkeit mehr als 30%. Die oberen 10% der Bevölkerung haben etwa 32% des Gesamteinkommens, die oberen 20% zusammen 47%. Die Ungleichheit in Tunesien ist so gravierend, daß die ärmeren 60% der Bevölkerung nur 30% des Geldes verdienen.

2011, vor dem Sturz von Präsident Ben Ali, einem Freund des IWF, war offensichtlich, daß die Bevölkerung einen wirtschaftlichen Kurswechsel wollte. Die Demonstranten auf den Straßen forderten seinen Rücktritt. Einige trugen Plakate im tunesischen arabischen Dialekt mit der Aufschrift Ben Ali, Yezzi Fock („Ben Ali, es reicht“), und das wurde zum politischen Slogan der Demonstranten. Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände, die seit der Unabhängigkeit von Frankreich eine aktive Rolle im öffentlichen Leben spielen, unterstützten die Protestbewegung. Es war offensichtlich, daß die Menschen dieses wirtschaftlich ruinierten Landes eine Lösung für die wirtschaftliche Misere suchten - aber nichts deutete darauf hin, daß sie diese Lösung von den Islamisten erwarteten.

Doch so geschah es, und genauso in Ägypten. In Ägypten war ein korruptes, marodes Regime unter Hosni Mubarak jahrzehntelang vom Westen gestützt worden, in Tunesien hatten sich Ben Ali und sein Clan seit 1987 mit Hilfe der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich an der Macht gehalten. Beide Regimes sorgten dafür, daß sich keine bedeutenden politischen Parteien bilden konnten. Aber die Muslimbrüder als Geheimorganisation mit internationalen Geheimdienstverbindungen waren im Untergrund sehr aktiv geblieben und tauchten schnell auf, sobald das Volk die Despoten gestürzt hatte. Und da sie Hand in Hand mit dem IWF arbeiteten, half der Westen ihnen bereitwillig bei der Machtübernahme.

Manche Beobachter waren überrascht, als Ennahda, eine islamistische Partei mit Verbindungen zu radikal-islamistischen Salafisten und Wahabiten, im Juni vom IWF einen Kredit über 1,78 Mrd.$ zugesprochen erhielt. Doch eigentlich gibt es keinen Grund, überrascht zu sein. Wie schon anderthalb Monate vorher in einem Artikel von Rob Prince in der Zeitung Colorado Progressive Jewish News vom 22. April berichtet worden war, übten Washington und Paris beträchtlichen Einfluß auf den Fonds aus und hatten entschieden, in Tunesien auf Ennahda zu setzen. „Das ist die zentrale politische Botschaft des IWF-Kredits. Washingtons Unterstützung für Ennahda erfolgt trotz der unbehinderten Stürmung und teilweisen Verwüstung der amerikanischen Botschaft in Tunis im letzten September, als das tunesische Innenministerium trotz früherer Warnungen vor der Gefahr - darunter eine Warnung des amerikanischen Botschafters in Tunesien, Jacob Welles, die nicht beachtet wurde - nicht in der Lage war, die Unruhen aufzuhalten“, schrieb Prince.

    „Manche werden sich fragen, warum die Regierung Obama die Ennahda-Partei unterstützen sollte, obwohl sie von deren laufenden Beziehungen zu den salafistisch und wahabitisch geprägten, militanten radikalen Islamisten des Landes sehr wohl weiß, aber es ist nicht so seltsam, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Wenn es darum geht, im Tandem mit den regionalen strategischen und wirtschaftlichen Zielen der USA zu arbeiten, hat Ennahda nie gezögert. Diese Partei weiß genau, auf welcher Seite sie stehen muß. In der Wirtschaftspolitik bleibt sie bei Tunesiens Bekenntnis zu einer neoliberalen Wirtschaftspolitik - d.h. der Öffnung der Wirtschaft für die globale Finanzwelt und Konzerne - und intensiviert dies mit diesem IWF-Kredit sogar noch.“

Am 23. Juni saß der Weltbank-Ökonom Joseph Stiglitz in Tunis auf einem Podium mit dem damaligen Ministerpräsidenten Hamadi Jebali, Finanzminister Houssine Dimassi und Zentralbankchef Mustapha Nabli. Nabli, der bei der Weltbank Chefökonom und Sektionsleiter für den Nahen Osten und Nordafrika gewesen war, erhielt den Zentralbankposten nach Ben Alis Sturz im Januar 2011. Auf dem Forum warb Nabli für sich, indem er betonte, in den schwierigen Monaten nach der Revolution habe nur seine „flexible“ Geldpolitik Tunesiens Bankensektor und winzigen Finanzmärkte vor der Kernschmelze bewahrt. Stiglitz, Nablis früherer Kollege bei der Weltbank, drang auf Privatisierung und Liberalisierung: Die tunesische Politik solle der Versuchung widerstehen, zu viele Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor zu schaffen, sondern Subventionen abbauen.

Ben Ali und der IWF-Kredit

Subventionsabbau und niedrige Löhne im Staatssektor lautet schon seit den 80er Jahren die Litanei des Westens gegenüber den Entwicklungsländern im Zusammenhang mit den „Strukturanpassungs-Programmen“ des IWF. Damals, als der Kalte Krieg noch voll im Gange war, ließ der Westen den IWF auf Länder der Dritten Welt los, die in Not waren und verzweifelt Devisen brauchten, um ihre Schulden zu zahlen und lebensnotwendige Güter zu importieren. Bedingung für die Weltbank/IWF-Kredite waren die Streichung von Subventionen für Nahrungsmittel, Medikamente und Bildung sowie das Einfrieren der Löhne und anderer Leistungen für Staatsbedienstete.

Kurz bevor Ben Ali, der unter Tunesiens erstem Präsidenten Habib Bourguiba (1957-87) Innenminister war, seinen unblutigen Putsch gegen Bourguiba unternahm, gab es Hungeraufstände. Der IWF bedrängte Bourguiba, Subventionen für Nahrungsmittel zu streichen, doch er widersetzte sich. Er hatte die Unterstützung der Bevölkerung, weil seine Politik sich auf eine starke Rolle des Staates in der Wirtschaft, kostenlose öffentliche Schulen, Demokratisierung der Rolle der Frauen und Subventionen für Nahrung und Brennstoffe stützte. Doch 1986 litt Tunesien unter einem verheerenden Devisenmangel, u.a. wegen eines steilen Rückgangs des Ölpreises. 1987 stimmte Bourguiba einem IWF-Kredit zu, für den er als Gegenleistung die Subventionen für Brot strich. Noch im November desselben Jahres wurde er gestürzt. Als Ben Ali die Macht übernahm, hatte der IWF in der früheren französischen Kolonie einen Seelenverwandten gefunden.

Die Haltung der neuen Regierung gegenüber IWF und Weltbank verkehrte sich innerhalb weniger Wochen von Argwohn und Feindseligkeit in herzliches Einvernehmen. Zu Beginn seiner Herrschaft versprach Ben Ali dem IWF Demokratie und Transparenz. Unter ihm erlitt Tunesien ein Vierteljahrhundert IWF-„Strukturanpassungen“. Er zerstörte große Teile des sozialen Gefüges, das Bourguiba aufgebaut hatte. Als Ben Ali 2011 endlich gestürzt wurde, hinterließ er ein wirtschaftlich und sozial polarisiertes Land - die Hälfte der Wirtschaft in der Hand der beiden herrschenden Familien (die Ben Alis und die Trabelsis), ein Unterdrückungsapparat von mehr als 200.000 Polizisten in einem Land mit 10 Millionen Einwohnern sowie eine gewaltige Schuldenlast. Es wird allgemein zugegeben, daß an dem wirtschaftlichen und sozialen Niedergang Tunesiens in der Ära Ben Ali weitgehend der IWF schuld ist.

Ein IWF-Kredit für die Brüder

Die Tunesier wollten Ben Ali absetzen, damit das Land wirtschaftlich den Kurs ändert. Die Muslim-Bruderschaft hingegen sah darin eine Gelegenheit, die Macht zu übernehmen und zu konsolidieren. An wirtschaftlichen Fragen war ihr nicht gelegen und sie hatte sich ohnehin schon vom IWF abhängig gemacht. Infolgedessen brachte die Zeit nach Ben Ali den Tunesiern keine wirtschaftliche Verbesserung. Auch wenn offensichtlich war, daß man die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht von heute auf morgen herumreißen könnte, herrschte die Erwartung, daß die Brüder sich nach und nach ernsthaft um wirtschaftliche Reformen bemühen würden.

Doch statt dessen war die neue Regierung genauso ein Herz und eine Seele mit IWF und Weltbank wie die alte - nur daß der tunesische Partner nicht mehr der Ben-Ali-Clan war, sondern die religiöse Moral predigende Bruderschaft. Im letzten November bewilligte die Weltbank Tunesien einen Kredit über 500 Mio.$, der zweite Kredit seit Ben Alis Sturz. Im Juni folgte dann der IWF-Kredit über 1,78 Mrd.$.

Karim Bouabdili von der oppositionellen zentristisch-liberalen Partei Republikanischer Maghreb, Mitglied im Finanzausschuß des Parlaments, sagte am 11. Juni Tunisi Live, der Kredit werde dem Land vielleicht „eine Krise und eine Hungerrevolution wie in Frankreich“ [1789] bringen. Es sei Geldverschwendung, weil die Regierung damit nur Löhne zahlen oder ihr eigenes Einkommen erhöhen werde. Bouabdili kritisierte wie viele andere auch, die Regierung habe nicht erklärt, zu welchem Zweck sie den Kredit überhaupt aufgenommen habe.

Schon im April hat das Tunesische Institut für Strategische Studien (ITES), ein staatlich finanziertes Forschungsinstitut, das mit dem Büro von Staatspräsident Marzouki verbunden ist, in einem Memorandum das Kreditabkommen kritisiert und der Regierung mangelnde Transparenz vorgeworfen. Die Daten über die tunesische Wirtschaft, die die Regierung dem IWF geliefert habe, seien viel schlechter, als sie öffentlich zugebe und zeigten eine „katastrophale“ Wirtschaftslage.

Finanzminister Elyes Fakhfakh sagte, seine Kabinettskollegen hätten sich auf ehrgeizige Konjunkturprogramme geeinigt, allein ein Drittel des Haushalts 2013 solle in Infrastrukturprojekte fließen. Dieses „keynesianische Wirtschaftsmodell“ solle kurzfristig Arbeitsplätze schaffen und private Unternehmen stützen. Das sind schöne Worte. Aber Tunesien wird nur dann eine Zukunft haben, wenn es eine Regierung bekommt, die von Aufbauprogrammen nicht nur redet. Ob sie es damit ernst meint, wird man daran erkennen, ob sie sich dem Diktat des IWF widersetzt.