Falsche Brüder: Tunesien und der IWF
Von Ramtanu Maitra
Manche Beobachter sind überrascht, daß der Westen die durch den
„Arabischen Frühling“ an die Macht gekommenen Regierungen der
Moslem-Bruderschaft unterstützt. Tatsächlich unterwerfen sich diese wie ihre
gestürzten Vorgänger bereitwillig dem Diktat des Weltwährungsfonds - und nur
darauf kommt es dem Westen an.
Bisher konnte Tunesiens Ministerpräsident Ali Larajedh von der demokratisch
gewählten islamistischen Ennahda-Partei die laute Forderung der Öffentlichkeit
nach dem Rücktritt seiner Regierung abwehren, aber die Lage bleibt im Fluß und
die schwache Regierung könnte jederzeit fallen. Am 30. Juli forderte Tunesiens
größte Gewerkschaft, die Tunesische Allgemeine Arbeiterunion (UGTT), die
Ablösung der von Islamisten geführten Regierung durch eine technokratische
Verwaltung. Einen Tag zuvor hatte die weltliche Partei Ettakatol, ein
kleinerer Koalitionspartner in der Regierung Larajedh, mit ihrem Rückzug
gedroht, falls keine neue Regierung der nationalen Einheit gebildet würde.
Am 7. August wurde das Übergangsparlament aufgelöst. Der größte Schock für
die regierende Ennahda-Partei, den tunesischen Zweig der Muslim-Bruderschaft
(MB), ist vielleicht, daß dieser letzte Schlag von einem ihrer eigenen
weltlichen Verbündeten kam - ein Zeichen der zunehmenden Polarisierung
zwischen islamistischen und weltlichen Kräften, worüber die Regierung
jederzeit stürzen kann.
Die etablierten Medien verbreiten, die jüngste Krise sei eine ideologische
Auseinandersetzung zwischen Islamisten und Nicht-Islamisten, die sich
lautstark bemerkbar machen, seit kürzlich zwei führende gemäßigte Politiker
von mutmaßlichen Islamisten ermordet wurden: Chokri Belaid am 6. Februar und
Mohamed Brahmi am 25. Juli. In Wirklichkeit protestieren die Tunesier aber
gegen die verheerende Wirtschaftslage, für die erst der gestürzte langjährige
Staatsführer Zine el-Abidine Ben Ali (1987-2011) und dann seit ihrem
Machtantritt 2012 nach der Revolution die Ennahda-Partei verantwortlich ist.
Eine aufschlußreiche Gemeinsamkeit des tyrannischen Regimes des Ben-Ali-Clans
und der Herrschaft der Muslimbrüder ist, daß sich beide bei der Organisation
der Wirtschaft auf den Internationalen Währungsfonds (IWF) stützen.
In dieser Hinsicht ist Tunesien kein Einzelfall. Auch in Ägypten hat der
Führer der Muslimbrüder und frühere Präsident Mohamed Mursi, der in den USA
ausgebildet und von Washington unterstützt wurde, eine Einigung mit dem IWF
gesucht und erhalten, die mit einer Fülle von Bedingungen und Beschränkungen
verbunden war. In Pakistan, wo die Dschihadisten sämtliche Institutionen
unterwandert haben, tut Ministerpräsident Nawaz Sharifs Finanzminister und
enger Vertrauter Ishaq Dar alles, um die IWF-Bosse zu einem Kredit zu bewegen,
der Pakistan nur schaden würde.
Mit anderen Worten, die Muslimbrüder und andere Dschihadisten, die kaum
etwas darüber wissen, wie die internationalen Finanzinstitutionen Kredite
benutzen, damit der Westen Regierungen in die Knie zwingen kann, zeigen ihre
Abhängigkeit von den IWF-Weltbank-Räubern ganz offen.
Nicht zu übersehende Verbindung
Hinzu kommt, daß die Bruderschaft sich schon länger den westlichen
Geheimdiensten angenähert hat, um ihre Sache bei den internationalen
Finanzinstitutionen und Banken zu fördern, die als Hauptstütze der
gegenwärtigen Weltordnung eng mit den Geheimdiensten der maßgeblichen Nationen
zusammenarbeiten.
Ein Beispiel ist Rachid Ghannouchi, der intellektuelle Führer der
Ennahda-Partei. Ghannouchi kehrte nach Tunesien zurück, um die Parteiführung
zu übernehmen, nachdem er 22 Jahre freiwillig im Exil in Großbritannien gelebt
hatte. In dieser Zeit wurde Ghannouchi in England eine Berühmtheit. 2012
überreichte Prinz Andrew, Herzog von York, ihm (zusammen mit dem tunesischen
Präsidenten Moncef Marzouki) den Chatham-House-Preis für „die erfolgreichen
Kompromisse, die beide während Tunesiens demokratischem Übergang erreichten“.
Chatham House lobte Scheich Ghannouchis „Rolle bei der Förderung der
Kompatibilität des Islam mit Demokratie und Modernität, ein Beitrag, der eine
Kultur der Toleranz und des Brückenbaus über das politische Spektrum hin
fördert“.
Chatham House, mit anderem Namen Royal Institute of International Affairs
(RIIA), agiert als ein Arm der britischen Regierung über seine Verbindungen zu
Forschungs- und Studienzentren in anderen Ländern. Diese Zentren werden dann
zu Kanälen für die Umsetzung der britisch-imperialen Politik.
Ghannouchis Verbindung zum britischen Geheimdienst trat nochmals in
Erscheinung, als die Vertretung der Bruderschaft in England, die Muslim
Association of Britain (MAB), ankündigte, der tunesische MB-Führer sei zu
ihrer Konferenz „Hoffnung schaffen“ am 17. Dezember 2011 als Gastredner
geladen. Ein weiterer Redner der Konferenz war Robert Lambert, der als Beamter
der Sonderabteilung des britischen Geheimdienstes 26 Jahre lang Operationen
einer verdeckten Einheit geleitet hatte, mit der Polizeispitzel in politische
Kampagnen in Großbritannien eingeschleust wurden, u.a. solche, die scheinbar
von Anti-Rassismus-Gruppen geführt wurden.
Lambert schrieb am 5. Dezember 2011 in einem Artikel im New
Statesman: „Britannien kann stolz darauf sein, daß es in den letzten drei
Jahrzehnten als sicherer Hafen für Mitglieder und Anhänger der
Muslim-Bruderschaft gedient hat. Viele entgingen Gefängnis und Folter in
Ländern unter korrupten Diktatoren, die vom Westen bis zum Arabischen Frühling
stark unterstützt wurden. Nun kehren einige in ihre Heimatländer zurück, um
dabei zu helfen, neue Demokratien und Bollwerke gegen zukünftige Diktaturen in
der arabischen Welt aufzubauen.“
Wirtschaftskrise reif für IWF-Machtübernahme
Die Arbeitslosigkeit in Tunesien liegt bei 17%, genauso hoch wie am Ende
von Ben Alis Herrschaft. Im Landesinnern und unter jungen
Universitätsabsolventen beträgt die Arbeitslosigkeit mehr als 30%. Die oberen
10% der Bevölkerung haben etwa 32% des Gesamteinkommens, die oberen 20%
zusammen 47%. Die Ungleichheit in Tunesien ist so gravierend, daß die ärmeren
60% der Bevölkerung nur 30% des Geldes verdienen.
2011, vor dem Sturz von Präsident Ben Ali, einem Freund des IWF, war
offensichtlich, daß die Bevölkerung einen wirtschaftlichen Kurswechsel wollte.
Die Demonstranten auf den Straßen forderten seinen Rücktritt. Einige trugen
Plakate im tunesischen arabischen Dialekt mit der Aufschrift Ben Ali, Yezzi
Fock („Ben Ali, es reicht“), und das wurde zum politischen Slogan der
Demonstranten. Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände, die seit der
Unabhängigkeit von Frankreich eine aktive Rolle im öffentlichen Leben spielen,
unterstützten die Protestbewegung. Es war offensichtlich, daß die Menschen
dieses wirtschaftlich ruinierten Landes eine Lösung für die wirtschaftliche
Misere suchten - aber nichts deutete darauf hin, daß sie diese Lösung von den
Islamisten erwarteten.
Doch so geschah es, und genauso in Ägypten. In Ägypten war ein korruptes,
marodes Regime unter Hosni Mubarak jahrzehntelang vom Westen gestützt worden,
in Tunesien hatten sich Ben Ali und sein Clan seit 1987 mit Hilfe der
ehemaligen Kolonialmacht Frankreich an der Macht gehalten. Beide Regimes
sorgten dafür, daß sich keine bedeutenden politischen Parteien bilden konnten.
Aber die Muslimbrüder als Geheimorganisation mit internationalen
Geheimdienstverbindungen waren im Untergrund sehr aktiv geblieben und tauchten
schnell auf, sobald das Volk die Despoten gestürzt hatte. Und da sie Hand in
Hand mit dem IWF arbeiteten, half der Westen ihnen bereitwillig bei der
Machtübernahme.
Manche Beobachter waren überrascht, als Ennahda, eine islamistische Partei
mit Verbindungen zu radikal-islamistischen Salafisten und Wahabiten, im Juni
vom IWF einen Kredit über 1,78 Mrd.$ zugesprochen erhielt. Doch eigentlich
gibt es keinen Grund, überrascht zu sein. Wie schon anderthalb Monate vorher
in einem Artikel von Rob Prince in der Zeitung Colorado Progressive Jewish
News vom 22. April berichtet worden war, übten Washington und Paris
beträchtlichen Einfluß auf den Fonds aus und hatten entschieden, in Tunesien
auf Ennahda zu setzen. „Das ist die zentrale politische Botschaft des
IWF-Kredits. Washingtons Unterstützung für Ennahda erfolgt trotz der
unbehinderten Stürmung und teilweisen Verwüstung der amerikanischen Botschaft
in Tunis im letzten September, als das tunesische Innenministerium trotz
früherer Warnungen vor der Gefahr - darunter eine Warnung des amerikanischen
Botschafters in Tunesien, Jacob Welles, die nicht beachtet wurde - nicht in
der Lage war, die Unruhen aufzuhalten“, schrieb Prince.
„Manche werden sich fragen, warum die Regierung Obama die Ennahda-Partei
unterstützen sollte, obwohl sie von deren laufenden Beziehungen zu den
salafistisch und wahabitisch geprägten, militanten radikalen Islamisten des
Landes sehr wohl weiß, aber es ist nicht so seltsam, wie es auf den ersten
Blick scheinen mag. Wenn es darum geht, im Tandem mit den regionalen
strategischen und wirtschaftlichen Zielen der USA zu arbeiten, hat Ennahda nie
gezögert. Diese Partei weiß genau, auf welcher Seite sie stehen muß. In der
Wirtschaftspolitik bleibt sie bei Tunesiens Bekenntnis zu einer neoliberalen
Wirtschaftspolitik - d.h. der Öffnung der Wirtschaft für die globale
Finanzwelt und Konzerne - und intensiviert dies mit diesem IWF-Kredit sogar
noch.“
Am 23. Juni saß der Weltbank-Ökonom Joseph Stiglitz in Tunis auf einem
Podium mit dem damaligen Ministerpräsidenten Hamadi Jebali, Finanzminister
Houssine Dimassi und Zentralbankchef Mustapha Nabli. Nabli, der bei der
Weltbank Chefökonom und Sektionsleiter für den Nahen Osten und Nordafrika
gewesen war, erhielt den Zentralbankposten nach Ben Alis Sturz im Januar 2011.
Auf dem Forum warb Nabli für sich, indem er betonte, in den schwierigen
Monaten nach der Revolution habe nur seine „flexible“ Geldpolitik Tunesiens
Bankensektor und winzigen Finanzmärkte vor der Kernschmelze bewahrt. Stiglitz,
Nablis früherer Kollege bei der Weltbank, drang auf Privatisierung und
Liberalisierung: Die tunesische Politik solle der Versuchung widerstehen, zu
viele Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor zu schaffen, sondern Subventionen
abbauen.
Ben Ali und der IWF-Kredit
Subventionsabbau und niedrige Löhne im Staatssektor lautet schon seit den
80er Jahren die Litanei des Westens gegenüber den Entwicklungsländern im
Zusammenhang mit den „Strukturanpassungs-Programmen“ des IWF. Damals, als der
Kalte Krieg noch voll im Gange war, ließ der Westen den IWF auf Länder der
Dritten Welt los, die in Not waren und verzweifelt Devisen brauchten, um ihre
Schulden zu zahlen und lebensnotwendige Güter zu importieren. Bedingung für
die Weltbank/IWF-Kredite waren die Streichung von Subventionen für
Nahrungsmittel, Medikamente und Bildung sowie das Einfrieren der Löhne und
anderer Leistungen für Staatsbedienstete.
Kurz bevor Ben Ali, der unter Tunesiens erstem Präsidenten Habib Bourguiba
(1957-87) Innenminister war, seinen unblutigen Putsch gegen Bourguiba
unternahm, gab es Hungeraufstände. Der IWF bedrängte Bourguiba, Subventionen
für Nahrungsmittel zu streichen, doch er widersetzte sich. Er hatte die
Unterstützung der Bevölkerung, weil seine Politik sich auf eine starke Rolle
des Staates in der Wirtschaft, kostenlose öffentliche Schulen,
Demokratisierung der Rolle der Frauen und Subventionen für Nahrung und
Brennstoffe stützte. Doch 1986 litt Tunesien unter einem verheerenden
Devisenmangel, u.a. wegen eines steilen Rückgangs des Ölpreises. 1987 stimmte
Bourguiba einem IWF-Kredit zu, für den er als Gegenleistung die Subventionen
für Brot strich. Noch im November desselben Jahres wurde er gestürzt. Als Ben
Ali die Macht übernahm, hatte der IWF in der früheren französischen Kolonie
einen Seelenverwandten gefunden.
Die Haltung der neuen Regierung gegenüber IWF und Weltbank verkehrte sich
innerhalb weniger Wochen von Argwohn und Feindseligkeit in herzliches
Einvernehmen. Zu Beginn seiner Herrschaft versprach Ben Ali dem IWF Demokratie
und Transparenz. Unter ihm erlitt Tunesien ein Vierteljahrhundert
IWF-„Strukturanpassungen“. Er zerstörte große Teile des sozialen Gefüges, das
Bourguiba aufgebaut hatte. Als Ben Ali 2011 endlich gestürzt wurde, hinterließ
er ein wirtschaftlich und sozial polarisiertes Land - die Hälfte der
Wirtschaft in der Hand der beiden herrschenden Familien (die Ben Alis und die
Trabelsis), ein Unterdrückungsapparat von mehr als 200.000 Polizisten in einem
Land mit 10 Millionen Einwohnern sowie eine gewaltige Schuldenlast. Es wird
allgemein zugegeben, daß an dem wirtschaftlichen und sozialen Niedergang
Tunesiens in der Ära Ben Ali weitgehend der IWF schuld ist.
Ein IWF-Kredit für die Brüder
Die Tunesier wollten Ben Ali absetzen, damit das Land wirtschaftlich den
Kurs ändert. Die Muslim-Bruderschaft hingegen sah darin eine Gelegenheit, die
Macht zu übernehmen und zu konsolidieren. An wirtschaftlichen Fragen war ihr
nicht gelegen und sie hatte sich ohnehin schon vom IWF abhängig gemacht.
Infolgedessen brachte die Zeit nach Ben Ali den Tunesiern keine
wirtschaftliche Verbesserung. Auch wenn offensichtlich war, daß man die
wirtschaftlichen Verhältnisse nicht von heute auf morgen herumreißen könnte,
herrschte die Erwartung, daß die Brüder sich nach und nach ernsthaft um
wirtschaftliche Reformen bemühen würden.
Doch statt dessen war die neue Regierung genauso ein Herz und eine Seele
mit IWF und Weltbank wie die alte - nur daß der tunesische Partner nicht mehr
der Ben-Ali-Clan war, sondern die religiöse Moral predigende Bruderschaft. Im
letzten November bewilligte die Weltbank Tunesien einen Kredit über 500 Mio.$,
der zweite Kredit seit Ben Alis Sturz. Im Juni folgte dann der IWF-Kredit über
1,78 Mrd.$.
Karim Bouabdili von der oppositionellen zentristisch-liberalen Partei
Republikanischer Maghreb, Mitglied im Finanzausschuß des Parlaments, sagte am
11. Juni Tunisi Live, der Kredit werde dem Land vielleicht „eine Krise
und eine Hungerrevolution wie in Frankreich“ [1789] bringen. Es sei
Geldverschwendung, weil die Regierung damit nur Löhne zahlen oder ihr eigenes
Einkommen erhöhen werde. Bouabdili kritisierte wie viele andere auch, die
Regierung habe nicht erklärt, zu welchem Zweck sie den Kredit überhaupt
aufgenommen habe.
Schon im April hat das Tunesische Institut für Strategische Studien (ITES),
ein staatlich finanziertes Forschungsinstitut, das mit dem Büro von
Staatspräsident Marzouki verbunden ist, in einem Memorandum das Kreditabkommen
kritisiert und der Regierung mangelnde Transparenz vorgeworfen. Die Daten über
die tunesische Wirtschaft, die die Regierung dem IWF geliefert habe, seien
viel schlechter, als sie öffentlich zugebe und zeigten eine „katastrophale“
Wirtschaftslage.
Finanzminister Elyes Fakhfakh sagte, seine Kabinettskollegen hätten sich
auf ehrgeizige Konjunkturprogramme geeinigt, allein ein Drittel des Haushalts
2013 solle in Infrastrukturprojekte fließen. Dieses „keynesianische
Wirtschaftsmodell“ solle kurzfristig Arbeitsplätze schaffen und private
Unternehmen stützen. Das sind schöne Worte. Aber Tunesien wird nur dann eine
Zukunft haben, wenn es eine Regierung bekommt, die von Aufbauprogrammen nicht
nur redet. Ob sie es damit ernst meint, wird man daran erkennen, ob sie sich
dem Diktat des IWF widersetzt.