Äthiopiens oberste Priorität: Armut und Rückständigkeit überwinden
2001 wendete sich die äthiopische Regierung von den
sozialistischen und neoliberalen Wirtschaftsrezepten ab und setzt seither mit
großem Erfolg auf eine dirigistische Aufbaupolitik.
Äthiopien, mit mehr als 93 Millionen Menschen der bevölkerungsreichste
Binnenstaat der Welt und ohne Edelmetalle oder andere wertvolle Rohstoffe, hat
die Entwicklung seiner wertvollsten Ressource, der Bevölkerung, zur
Hauptaufgabe seiner Politik gemacht. Bereket Simon, ein geschätzter Berater
des äthiopischen Ministerpräsidenten Hailemariam Desalegn, betonte im Gespräch
mit EIR (wir berichteten in der vergangenen Woche) die wesentliche
Rolle des Staates bei der Verbesserung der Volkswirtschaft, bei der Erhöhung
der geringen Produktivität und bei der Hebung des Lebensstandards der
Bevölkerung durch die Stärkung geregelter Arbeitsverhältnisse anstelle des
rückständigen „informellen“ Sektors.
Die Regierungskoalition Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen
Völker (EPRDF) lehnt die neoliberale Politik ab, die diktiert, daß nur
uneingeschränkter Freihandel und „Marktkräfte“ die Zukunft des Landes
bestimmen dürfen. Stattdessen beharrt die EPRDF darauf, daß der Staat die
Verantwortung und Verpflichtung hat, die Gesellschaft voranzubringen, indem er
neue Technik einführt, notwendige Infrastruktur aufbaut, die Qualifikation der
Arbeitskräfte erhöht und den Zugang zu Informationen und Finanzmitteln
erleichtert.
Die EPRDF befreite Äthiopien 1991 von der kommunistischen Diktatur unter
Mengistu Haile Mariam, der das Land seit dem Sturz des Kaisers Haile Selassie
1974 beherrscht hatte. Aber der eigentliche Wendepunkt kam, wie Bereket
betont, 2001. Nach einer monatelangen, heftigen Debatte innerhalb der Front,
welche Politik der Zukunft des Landes am besten dienen würde, setzte sich die
Einstellung des 2012 verstorbenen Premierministers Meles Zenawi durch, und sie
bestimmt noch heute die Politik des Landes (lesen Sie dazu auch die
nebenstehenden Zitate Zenawis). Diese Konzepte führten zu sichtbaren
Verbesserungen für einen zwar immer noch recht kleinen, aber wachsenden Teil
der Bevölkerung, wie selbst Äthiopiens Kritiker im Westen widerstrebend
zugeben müssen.
Bereket, der eng mit Meles Zenawi verbunden war und mit diesem in der
Befreiungsbewegung zusammenarbeitete, berichtete uns, die EPRDF habe 2001
einerseits Kommunismus und Sozialismus zurückgewiesen, andererseits aber auch
nicht das westliche Finanzmodell übernommen, das sich z.B. in der Forderung
des Weltwährungsfonds nach Privatisierungen äußert und das den Verzicht auf
staatliche Eingriffe in die Volkswirtschaft predigt. Zenawi studierte als
Vorbilder Taiwan und Südkorea, wo der Staat mit Erfolg Investitionen in den
Landwirtschaftssektor lenkte, der diese ursprünglich bäuerlichen
Gesellschaften prägte, und auf diese Weise mit der Zeit ein bedeutendes
Wachstum für die gesamte Wirtschaft in Gang brachte.
Zenawi, eine zentrale Persönlichkeit des modernen Äthiopien, war der
Vordenker dieser äthiopischen neuen Politik, und sein Erbe bestimmt noch heute
das Denken der Regierung und vieler Bürger des Landes. Wenn sein Gedankengut
mit einem Ansatz der Zusammenarbeit aller Nationen in der Region verbunden
wird, dann verspricht das eine grundlegende Veränderung der gesamten
Region.
Wirtschaftliche Erfolge
In den letzten 13 Jahren hat Äthiopien diesen Ansatz staatlicher
Interventionen in seiner Wirtschaft praktiziert und dadurch die folgenden
Fortschritte erreicht:
Landwirtschaft: Da 80% der Bevölkerung in der
Landwirtschaft und den damit verbundenen Sektoren arbeiten, liegt die
Herausforderung darin, höhere Erträge pro Kopf zu erzielen und gleichzeitig
eine Schicht gebildeter, qualifizierter Arbeitskräfte heranzuziehen, um die
Anfänge einer industriellen und wissenschaftlichen Basis zu schaffen. In
diesem Zeitraum wurden mehr als 60.000 Agrarexperten in die ländlichen Gebiete
entsandt, um die Bauern mit grundlegenden Techniken bekannt zu machen.
Infolgedessen wuchs die Getreideproduktion von 10 Mio. t jährlich auf heute 25
Mio. t.
Bildung: Da 60% der Bevölkerung jünger als 30 Jahre sind,
bilden die Gründung von 30 neuen Universitäten, die Ausweitung des Programms
für die Technische und Berufsausbildung (TVET) und die Steigerung der
Studentenzahl von 2 Mio. auf 22 Mio. den Anfang der notwendigen Veränderungen.
Im April 2010 wurde die Äthiopische Akademie der Wissenschaften gegründet, mit
dem Ziel, aus Äthiopien eine wissenschaftlich gebildete Gesellschaft zu
machen.
Wasserkraft: 1991 hatten nur 8% bzw. 4 Mio. der damals 51
Millionen Einwohner des Landes (beschränkten) Zugang zur Stromversorgung. Seit
2004 das erste von insgesamt vier geplanten Wasserkraftwerken an den
Gibe-Stauseen entstand (Gibe III und Gibe IV sollen 2014-15 mit einer
Gesamtleistung von 3900 MW den Betrieb aufnehmen), kann dieser „Wasserturm
Afrikas“ in Verbindung mit weiteren Wasserprojekten Strom ins Ausland liefern.
Mit der 2017-18 erwarteten Fertigstellung des Großen Renaissance-Damms, dem
mit einer Leistung von 6000 MW größten Wasserkraftwerk Afrikas, werden mehr
als 75% der Bevölkerung Zugang zur Stromversorgung haben. Heute haben aufgrund
des Baus eines 152.000 km langen Leitungsnetzes rund 50% der Bevölkerung
Anschluß an die Stromversorgung, u.a. mehr als 6000 Dörfer und Städte im
ländlichen Raum.
Gesundheitswesen: Zur Aufklärung der Bevölkerung wurden
mehr als 40.000 Mitarbeiter der Gesundheitsdienste in die ländlichen Gebiete
geschickt, um den Menschen Grundkenntnisse über Seuchenbekämpfung, Hygiene und
Schwangerschaftsvorsorge zu vermitteln. Infolgedessen sank die
Kindersterblichkeit innerhalb von zehn Jahren um zwei Drittel (von 103
Sterbefällen auf 1000 Geburten 2003 auf nur noch 44/1000 im Jahr 2013).
Wohnungsbau: Addis Abeba, Äthiopiens Hauptstadt am Fuße
des Entoto-Berges, wurde 1886 unter Kaiser Melenik II. gegründet. Für die
heute rund 3 Mio. Einwohner der Stadt wurden mehr als 120.000 neue Wohnungen
und Hunderte von Wohngebäuden errichtet, um den Wohnungsmangel in der
Hauptstadt und ihrer Umgebung zu reduzieren. Dieser Bauboom sorgt für eine
große Nachfrage nach Baumaterial. So benötigt die Stadt im laufenden Jahr 1,3
Mio. m3 Kies und in den kommenden fünf Jahren schätzungsweise
weitere 6 Mio. m3 allein für den Wohnungsbau.
Verkehr: Da mehr als 82% der Bevölkerung in ländlichen
Gebieten leben, gehörte der Bau guter Straßen und Autobahnen zu den
wichtigsten Projekten. Die gerade fertiggestellte, 80 km lange Autobahn von
Addis Abeba nach Adama (Nazareth) entlastet einen der stauanfälligsten
Korridore. Bis zu 20.000 Fahrzeuge fahren täglich von Addis Abeba durch den
Bundesstaat Oromia nach Adama. Es ist die erste Mautstraße Äthiopiens und die
erste Autobahn in Ostafrika. Sie wurde von der China Communication
Construction Corp. (CCCC) gebaut, als ein erstes Teilstück der zukünftigen
Fernstraße von Addis Abeba nach Dschibuti und Teil eines 64.000 km umfassenden
Straßennetzes, das die Regierung bis 2015 schaffen will.
In Addis Abeba selbst baut die China Railway Group Ltd. ein 34 km langes
Straßenbahnnetz mit 41 Stationen, das die Außenbezirke in Nord-Süd- und
Ost-West-Richtung mit der Stadtmitte verbinden wird. Pro Stunde können in
jeder Richtung bis zu 15.000 Personen transportiert werden. Außerdem wurde
gerade eine Machbarkeitsstudie fertiggestellt, um das nationale Eisenbahnnetz
von derzeit 800-1000 km auf 4-5000 km auszubauen.
Lawrence Freeman und Donielle DeToy