"Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen.
Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst."
Friedrich Schiller
  Afrika

„Das neoliberale Paradigma ist eine Sackgasse“

Auszüge aus einem unveröffentlichten Manuskript des damaligen äthiopischen Ministerpräsidenten Meles Zenawi (1955-2012) aus dem Jahr 2006 mit dem Titel „Entwicklung Afrikas: Sackgassen und Neuanfänge“.

Aus der Einleitung: „Die politische und wirtschaftliche Renaissance Afrikas ist eine Frage, die auch weiterhin Afrikaner wie Nichtafrikaner gleichermaßen beschäftigt. Es wurden verschiedene Methoden vorgeschlagen, wie eine solche Renaissance erreicht werden kann. Die meisten dieser Vorschläge sind Variationen des vorherrschenden neoliberalen Paradigmas der Entwicklung. Mein Argument ist, daß das neoliberale Paradigma eine Sackgasse ist, daß es unfähig ist, eine Renaissance Afrikas herbeizuführen, und daß ein fundamentaler Paradigmenwechsel notwendig ist, um eine afrikanische Renaissance herbeizuführen...

Die gesellschaftliche Entwicklung ist wesentlich für die wirtschaftliche Entwicklung, und diese gesellschaftliche Entwicklung kann nicht allein durch Marktmechanismen erreicht werden.“

Aus Kapitel 6: „Die Wirtschaftstheorie hat gezeigt, daß die Entwicklungsländer in verschiedenen Teufelskreisen und Armutsfallen gefangen sind, die nur durch Maßnahmen des Staates beseitigt werden können. Die Theorie des Entwicklungsstaates vervollständigt das alternative Paradigma, indem sie zeigt, welche Staatsformen in die Wirtschaft eingreifen können, um das Wachstum zu beschleunigen und gleichzeitig die sozial verheerenden, nach Profiten strebenden Aktivitäten zu begrenzen.“

Aus Kapitel 7: „Die erfolgreichsten Entwicklungserfahrungen wurden nicht durch einen Nachtwächterstaat herbeigeführt, der sich darauf beschränkt, die persönlichen Eigentumsrechte zu schützen und die Einhaltung von Verträgen durchzusetzen [d.h. das westliche Modell des Freihandels]. Sie wurden herbeigeführt durch einige der interventionistischsten Regierungen, die im Rahmen der Marktwirtschaft aufgetreten sind.“ (Auch wenn Zenawi in diesem Zusammenhang die Vereinigten Staaten nicht erwähnt, ist die Regierung von US-Präsident Franklin Delano Roosevelt ein hervorragendes Beispiel.)

In Kapitel 10 „Überwindung des Versagens der Märkte“ spricht Zenawi über die Rolle der Regierung bei der Bereitstellung von Kredit und dem Schutz der Binnenwirtschaft in den beiden Ländern, die er studierte:

    „Die Regierungen von Taiwan und Korea haben die Finanzmärkte faktisch weitgehend verdrängt und die Investitionsmittel in Übereinstimmung mit ihren Entwicklungsplänen eingesetzt. Die Zuteilung von Krediten durch die Regierung war der Dreh- und Angelpunkt in einem umfassenden Paket zur Unterstützung des privaten Sektors. Die beiden Regierungen boten auch sehr differenzierte Unterstützung im Handel und Schutz für die aufkommenden Industrien. Mit anderen Worten, die Regierungen der beiden Spitzenländer intervenierten massiv, um das Versagen der Märkte auszugleichen...“

In Kapitel 17 „Ergebnis der Wirtschaftsreformen“ beleuchtet er das Versagen des Neoliberalismus beim Aufbau der für die Entwicklung notwendigen Infrastruktur, insbesondere im Landwirtschaftssektor:

    „Investitionen in die Infrastruktur und Einrichtungen zur Unterstützung der Märkte, die die Einheitskosten der Verteilung senken, sind notwendig, um aus der Sackgasse auszubrechen. Die physische und intuitive Infrastruktur zur Akkumulation technischer Fertigkeiten muß aufgebaut werden, um eine anhaltende Verbesserung der Produktivität herbeizuführen und aus der Sackgasse auszubrechen. Mit anderen Worten, man kann aus der Sackgasse nur ausbrechen, wenn der Staat in die physische Infrastruktur in den ländlichen Gebieten investiert, in Einrichtungen zur Unterstützung der Märkte, in Institutionen für die Akkumulation von Technologien, und wenn der Staat interveniert, um die Landwirtschaft vor der Kreditverknappung zu retten, in die sie der informelle Sektor gestürzt hat. Das neoliberale Dogma ist gegen alle diese wichtigen Schritte, die notwendig sind, um aus der Sackgasse auszubrechen. Das neoliberale Paradigma ist daher vollkommen unfähig, die afrikanische Landwirtschaft aus der Sackgasse, in die sie geraten ist, herauszuführen. Die Grundannahmen des neoliberalen Paradigmas widersprechen dem Kern dessen, was notwendig ist, um ein schnelles und anhaltendes Wachstum in der afrikanischen Landwirtschaft herbeizuführen.“