Unsere gemeinsame Mission: dem Prinzip der Neuen Seidenstraße
anschließen
Von Jacques Cheminade
Jacques Cheminade ist Kandidat für die französische
Präsidentschaftswahl 2017. Er hielt den folgenden Vortrag bei der Essener
Konferenz des Schiller-Instituts am 21. Oktober.
Danke Helga Zepp-LaRouche, danke Ihnen allen, daß Sie mich eingeladen
haben, hier zu sprechen und mit starken Worten auf die Herausforderung der
gegenwärtigen Weltlage zu antworten.
Wer hätte vor 40 oder auch nur 30 Jahren gedacht, daß China der wichtigste
Faktor einer zukünftigen Welt werden würde? Wer hätte gedacht, daß mehr als
700 Millionen Menschen aus der Armut befreit werden würden? Wer hätte gedacht,
daß Chinas Konzept einer „Win-Win-Strategie“ für die gemeinsamen Ziele und die
Schicksalsgemeinschaft der Menschheit Wirklichkeit und die Neue Seidenstraße
das Paradigma für Veränderung, die potentielle Alternative zur
Finanzkatastrophe des atlantischen Raubtiersystems werden würde? Wer hätte
gedacht, daß das Zentrum der Welt sich von Europa und Amerika nach Asien
verlagern würde?
Wer? Sicher niemand unter den Massenmedien und Technokraten im Westen, die
nur auf den eigenen Bauchnabel schauten und die selbst heute noch die Dynamik
dieser Veränderung nicht begriffen haben - es sei denn, sie werden ab und zu
geweckt durch ihre Angst vor etwas, was ihrer Gier fremd ist.
Was vor unseren Augen offen daliegt - und was diese Medien und Technokraten
nicht sehen wollen - ist der größte Plan für Industrialisierung und
Entwicklung, der jemals auf der Ebene unseres Planeten existiert hat;
beispielsweise geht er in seinem Umfang weit über den Marshallplan hinaus und
steht in seiner Intention und Orientierung weit über ihm. Tatsächlich ist die
Neue Seidenstraße, in ihrer Erweiterung auf die Ebene von „Ein Gürtel - eine
Straße“, ob uns das gefällt oder nicht, die Alternative zu einer nuklearen
Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und Rußland und zu einer
globalen Kernschmelze des Finanzsystems auf unserer atlantischen Seite. Der
sprichwörtliche „Atlantiker“ des vergangenen Jahrhunderts ist ein
narzißtischer Pirat geworden, der im Umfeld einer kriminell veranlagten
Gesellschaft agiert, er verhält sich wie ein Sohn von Obama oder Cheney.
Betrachten wir es von oben: der finanziellen Deregulierung unter Margaret
Thatcher als Eröffnung einer Ära endloser Ausbeutung, kurzfristigen Denkens
und Fixierung auf sofortigen Profit ging der Zerfall des moralischen
Verhaltens durch die totgeborene Gegenkultur von Woodstock und [den Pariser
Unruhen] im Mai 1968 voraus und setzt sich nun weiter fort. Das Problem ist,
daß dies gleichzeitig in den Vereinigten Staaten und in Europa geschah, aber
noch schlimmer ist, daß in den „seriösen“ Kreisen der herrschenden Mächte
niemand groß etwas dagegen tut. Und noch viel schlimmer ist die Tatsache, daß
der „Thatcherismus“, der Ursprung des heutigen Übels, als Lösung präsentiert
wird. Auf der Titelseite des französischen Magazins Le Point vom 6.
Oktober wird das ganz offen gesagt und die Botschaft des Britischen Empires
für brutale Austerität verbreitet.
Die Neue Seidenstraße, erweitert zu „Ein Gürtel - eine Weltstraße“, öffnet
dagegen den Weg zu langfristigem Denken und gemeinsamem wirtschaftlichen
Fortschritt, heraus aus einem System finanzieller Ausbeutung und
geopolitischer Konfrontation. Die Neue Seidenstraße ist, zusammen mit den
neuen Bankinstitutionen der BRICS, ein Gürtel entlang und um eine Straße
herum, die auf ihrem Weg Entwicklung verbreitet. Ein lineares Verkehrsnetz von
Hochgeschwindigkeitsbahnen strahlt negentropische Entwicklung aus und baut
eine Brücke zwischen China und der Welt. Es ist erklärtermaßen dem fiktiven
Kapital, das unser Finanzsystem produziert, entgegengesetzt und bildet eine
Plattform für weltweite Infrastrukturinvestitionen.
Beim Gipfel in Hangzhou hat der chinesische Präsident Xi Jinping seinen
Vorschlag für eine Reform der G20 konkret skizziert: „Sie muß sich von einem
Mechanismus der Krisenreaktion in einen Mechanismus langfristiger Steuerung
verwandeln“ und „muß eine maßgebliche Rolle bei der Überwindung jeder sich
ergebenden Wirtschaftskrise spielen“. Sie ist keine Reaktionsmöglichkeit,
sondern eine Initiative, die die Umgebung für neue Möglichkeiten gegenseitiger
Entwicklung entscheidend prägt.
Eine Prinzipiengemeinschaft wie de Gaulle und Adenauer
In diesem Zusammengang gibt es etwas, was für uns als deutsche und
französische Bürger besonders interessant ist. Wir haben auf beiden Seiten den
Geist der Prinzipiengemeinschaft von de Gaulle und Adenauer verloren. Dies ist
die perfekte Gelegenheit, durch unsere gemeinsame Beteiligung an dem von China
eröffneten Weg in die Zukunft unsere Absichtsgemeinschaft wiederzuerlangen.
Für uns sollte die gemeinsame Beteiligung die Chance sein, uns selbst aus dem
selbstmörderischen Griff der Finanzen zu befreien und uns gleichzeitig an
einem Projekt zu beteiligen, das Beste unserer Kultur und unserer wahren
europäischen Identität wiederzugewinnen, als Patrioten und Weltbürger, die
unsere Sprachen mit einem Gefühl der Zusammengehörigkeit sprechen. Weil wir
als Europäer mit China zusammenarbeiten müssen, müßten wir in Frankreich
wieder Deutsch lernen und sprechen, und für Sie in Deutschland gilt dasselbe
mit Französisch, ganz besonders, um im französischsprachigen Afrika zu
arbeiten. Sich dem Seidenstraßenprinzip anschließen, bedeutet nicht, auf
unsere Identitäten zu verzichten, sondern sie gegenseitig zu fördern.
Ist es ein Paradox, daß die chinesische Initiative unserer Allianz neue
Spannkraft verleihen soll? Überhaupt nicht, denn das hat es in der
Vergangenheit bereits gegeben, und es hat einen Namen: Leibniz und die
Leibnizsche Wissenschaft der physikalischen Ökonomie. Im 17. und 18.
Jahrhundert wußte der große deutsche Philosoph - der durch seine Mitwirkung an
Colberts Akademie der Wissenschaften auch ein französischer war -, daß die
Zukunft der Welt auf wissenschaftlicher, kultureller und wirtschaftlicher
Zusammenarbeit zwischen den „entwickeltsten Extremen Eurasiens“, wie er es
nannte, basieren sollte, Rußland und Zentralasien eingeschlossen. Leibniz
arbeitete mit einer Gruppe von jesuitischen Wissenschaftlern, wie dem
französischen Pater Gerbillon, dem Organisator des ersten
russisch-chinesischen Friedensabkommens, dem Vertrag von Nertschinsk, und dem
belgischen Pater Verbiest, dem Erzieher des Kaisers Kangxi. Leibniz war der
Auffassung, daß die Quellen der christlichen Missionierung mit der wahren
konfuzianischen Tradition nicht bloß vereinbar waren, sondern übereinstimmten
im Erringen dessen, was die moralische Natur des Menschen mit dem Universum
eint, nämlich der wahren kreativen Identität des Menschen.
An diesem Punkt sabotierten die britischen imperialen Kräfte und die
Agenten der Britischen Ostindiengesellschaft diese Bemühungen. Lord Macartney
berichtete nach seiner Rückkehr von einer Gesandtschaft nach China 1794 in
seinem Tagebuch von der Gefahr „chinesischer Stärke“ für das „Gewicht der
Reichtümer und des Genies“ Großbritanniens. Trotzdem rechnete er mit
„Rivalität und Unordnung“ im chinesischen Reich, wovon „unser Königreich
profitieren“ könne, wenn man richtig damit umginge. Der offizielle Bericht der
Botschaft, verfaßt von Sir George Staunton, stößt ins gleiche Horn. Beide
warnen, eine chinesische Bevölkerung von etwa 350 Millionen Menschen, die
damals mit den modernsten Bereichen von Wissenschaft und Technik befaßt war,
könne ein gefährlicher Gegner des britischen Systems von Monetarismus und
Monarchie werden.
Daraufhin begann das Britische Empire, entsprechend seines Prinzips „teile
und herrsche“, in Asien Konflikte zu schüren, und setzte schließlich mit
Gewalt den Opiumhandel durch, um nicht nur China kaputtzumachen, sondern auch
die Verbindung zwischen der chinesischen Kultur und der wahren europäischen
Kultur von Leibniz und seinen Nachfolgern.
Heute müssen wir uns dem gleichen Feind stellen, der inzwischen
anglo-amerikanisch ist - „britisches Hirn und amerikanischer Muskel“ -, und
unsere Interessengemeinschaft mit dem heutigen China besteht wieder darin, an
Leibniz’ Herangehensweise anzuknüpfen und unsere westliche Welt von ihrer
Unterwerfung unter die Londoner City und die Wall Street zu befreien.
Das ist kein Traum und kein Komplott, sondern eine Realität, deren Erringen
von unserem gemeinsamen Willen als Deutsche, Franzosen und allen europäischen
Völkern und Kulturen abhängt. Ich behaupte nicht, daß es leicht wird; es
erfordert Mut, vom höchsten Standpunkt aus die Wahrheit zu sagen und für sie
zu kämpfen. Aber nur, wenn wir es von der Unterseite der Geschichte aus
betrachten, erscheint die Straße als Sackgasse. Angesichts der Umstände
unserer tödlichen westlichen Schwäche fordert die chinesische Regierung den
Status einer Marktwirtschaft, um mehr Waren in Europa zu verkaufen, während
gleichzeitig die Vereinigten Staaten versuchen, uns den TAFTA-Vertrag
aufzuzwingen, um unsere Unabhängigkeit zu zerschmettern.
Die einzige Lösung ist, das ganze von oben zu betrachten. Auf der Ebene
ungehemmten Konkurrenzkampfes zwischen europäischen und chinesischen Produkten
läßt sich das Dilemma nicht lösen. Eine Lösung gibt es nur auf der Ebene von
Vereinbarungen zwischen Regierungen, die sich darum drehen, daß die Neue
Seidenstraße zu einer Weltstraße für gegenseitige Entwicklung aller wird.
Unsere gemeinsame Zukunft liegt auf der Ebene dessen, was wir gemeinsam tun
können und sollen: weder mörderischer Wettbewerb noch selbstmörderische
Geopolitik, sondern gemeinsame Entwicklung in gemeinsamen Projekten, wie dem
Mond-Mars-Weltraumprojekt, der Umwandlung der Meere und Ozeane von Gebieten,
die aus finanzieller Gier ausgebeutet werden, in langfristige „Landwirtschaft
im Wasser“ und unsere gemeinsame Entwicklung Afrikas. Die BRICS und wir
Europäer müssen eine Zielgemeinschaft werden, und wir müssen unsere Energien
mobilisieren, um die Vereinigten Staaten in dieses für alle vorteilhafte
Unernehmen hinein und aus der Herrschaft des imperialen und geopolitischen
Bösen heraus zu holen.
Die Migrationskrise lösen
Legen wir nun den Finger auf die Wunde. Sie alle wissen, daß Tausende von
Migranten im Mittelmeer ertrinken und viele weitere auf dem Weg durch die
Wüste von Zentralafrika zum Meer sterben. Aber was Sie vielleicht nicht
wissen, ist, daß auf diesem Weg die heiligsten Gesetze menschlichen Verhaltens
verletzt werden. Und das älteste davon, die moralische Pflicht, Menschen auf
dem Meer vor dem Ertrinken zu retten, wird am häufigsten verletzt. Meine
Freunde bei der Nichtregierungsgruppe „Ärzte der Welt“ (Médecins du Monde)
haben mir bestätigt, daß Containerschiffe wie auch Öl- und Gastanker sich
nicht nur weigern, Migranten, die zu ertrinken drohen, zu retten, sondern sie
sogar noch wegjagen, manchmal sogar, indem sie mit Wasserwerfern auf sie
zielen.
Das ist eines der schrecklichsten Verbrechen, das man sich vorstellen kann.
Warum wird es begangen? Weil die Kapitäne und Mannschaften dieser Schiffe nach
einem strikten Zeitplan arbeiten. Wenn sie zu spät ankommen, bedeutet das
Verluste für ihr Unternehmen, und sie werden bestraft. Migranten aus
Lebensgefahr zu retten bedeutet also, daß sie wegen Verspätung Strafe zahlen
müssen oder sogar entlassen werden. Um so mehr, weil sie Gefahr laufen, mit
den Geretteten zusammen in Quarantäne gesteckt zu werden!
Das erklärt ihr kriminelles Verhalten, auch wenn es sie mit Sicherheit
nicht von ihrer Verantwortung befreit. Aber wer sind die eigentlichen
Kriminellen hinter diesen Verbrechen, die auf dem Meer oder in den Wüsten
Afrikas begangen werden?
Erstens die Politik der Vereinigten Staaten und unserer europäischen
Länder, die NATO-Kriege, die die Gesellschaften des Nahen Ostens ruiniert
haben - einschließlich der Unterstützung unserer Verbündeten Saudi-Arabien und
Katar für Dschihad-Verbrecher. Und dahinter das Geld der britischen,
amerikanischen und auch französischen gar nicht so geheimen Geheimdienste.
Der zweite und größte Verbrecher ist unser Finanzsystem, das die Herrschaft
des kurzfristigen Profits über die Rettung von Menschenleben stellt. In diesem
Sinne sind wir wirklich Teil einer „Kultur des Todes“.
Schweife ich zu weit ab von der Neuen Seidenstraße, wenn ich das
anprangere? Keineswegs, denn es führt uns zur Alternative: Wenn wir solchen
Verbrechen ein Ende setzen wollen, brauchen wir eine Welt, die sich durch
etwas anderes definiert als Kriegsprovokationen und das Gesetz des schnellen
Profits. Das sind die Prinzipien hinter der Seidenstraße! Um den Strom von
Migranten zu stoppen, den Europa nicht bewältigen kann - weil dasselbe
Finanzsystem, unter dem diese Verbrechen zur See begangen werden, uns auch
daran hindert, hier Arbeitsplätze zu schaffen -, brauchen wir einen Wechsel
des Paradigmas. Erstens müssen wir die Kriege im Nahen Osten beenden, zweitens
die Wurzeln dieser Kriege ausrotten und drittens die ganze Region wieder
aufbauen, um Verhältnisse zu schaffen, in denen die Menschen wieder nach Hause
zurückkehren können oder nur freiwillig und nicht aus Verzweiflung daraus
fliehen.
Seit mehr als zwei Jahren kämpfen die westlichen Länder angeblich gegen
Al-Kaida, den Islamischen Staat und ihre Verbündeten, auf dem Papier und aus
der Luft, ohne ihre Finanzquellen auszutrocknen, und lassen sie deshalb ihren
kriminellen Einfluß weiterverbreiten, statt ihn zu stoppen. Unser Krieg gegen
den Terrorismus war genauso vorgetäuscht wie unser Krieg gegen das Rauschgift.
Angesichts unserer entgegenkommenden Haltung zu den Dschihad-Banden hat erst
die Intervention von Wladimir Putins Rußland die Voraussetzungen dafür
geschaffen, die Kriminellen auszuschalten. Aber um zu verhindern, daß nach dem
kommenden Fall von Mossul und Aleppo die Krankheit um sie herum verbreitet
wird, müssen wir die Länder der Region so schnell wie möglich wieder aufbauen,
angefangen mit dem Irak und Syrien.
China hat, ausgehend von der Perspektive der Neuen Seidenstraße, für diesen
Zweck einen Fonds von 30 Mrd. Dollar vorgeschlagen. Es wäre klug und nur
gerecht, wenn unsere Länder sich mit vielen Milliarden daran beteiligen, statt
weiter der monetaristischen Krankheit Vorschub zu leisten, indem man jeden
Monat 80 Milliarden Euro Pseudogeld ausgibt, um unser Bankensystem zu stützen,
was darauf hinausläuft, Leichen Medizin zu verabreichen.
Diese Perspektive wirklichen Aufbaus und Wiederaufbaus von Nationen im
Nahen Osten und anderen Teilen der Welt wäre das Ende der Herrschaft des
hyperschnellen finanziellen Gewinns, der Kapitäne und ihre Mannschaften dazu
treibt, Migranten qualvoll sterben zu lassen.
Nochmals - ist das ein Traum? „Ein Traum von Gutmenschen“, wie es
diejenigen nennen, die allein von Habgier getrieben sind? Keineswegs, es ist
ein Prozeß, durch den wir unsere Menschlichkeit und aus demselben Grund das
Prinzip wechselseitigen Wirtschaftswachstums wiedergewinnen können. Wir
Europäer sollten das besser als jeder andere wissen, weil wir nach eben diesem
Prinzip nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs unsere Länder mit echtem
Humankapital wiederaufgebaut haben.
Lassen Sie uns deshalb, als Franzosen und Deutsche, die ihre Grundlage an
Industrie und Energieversorgung verlieren, dieses Prinzip wiederentdecken und
unseren Geist auf eine bessere, mögliche Zukunft richten! Kämpfen wir für die
Sache unserer Völker und die Sache der Menschheit als untrennbare Einheit!
Denn wenn wir es nicht tun, wird unsere Strafe bald wirtschaftliches Chaos in
einer kriminell veranlagten Welt sein, das uns in einen neuen Weltkrieg
treibt. Der verwundete Tiger ist der gefährlichste. Hören wir also auf, uns
wie Tiger zu verhalten. Lassen Sie uns unsere geistige Partnerschaft
entwickeln, um gemeinsam die schöne Welt aufzubauen, die uns die Vorredner
gezeigt haben. Laßt uns Patrioten und Weltbürger werden, so wie Friedrich
Schiller die wahre menschliche Identität definiert hat.