"Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen.
Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst."
Friedrich Schiller
  Afrika

Die Straße, die wir zurückgelegt haben – und die, die vor uns liegt

Dr. Kelvin Kemm, Vorstandschef des südafrikanischen Kernkraftunternehmens Nuclear Africa, übermittelte der New Yorker Konferenz die folgende Grußbotschaft.

Kürzlich meldeten Forscher den mutmaßlichen Nachweis von Gravitationswellen, was als eine große Leistung begrüßt wird und was bedeutende Konsequenzen für das Verständnis unseres Universums hat. Erstaunlich ist auch, daß Albert Einstein die Gravitationswellen schon vor hundert Jahren vorhergesagt hat. Er hat also doch wieder einmal recht behalten.

Einstein warnte davor, sich in seinem Denken auf den sogenannten „gesunden Menschenverstand“ zu verlassen. Der „gesunde Menschenverstand“ sei nur eine Ansammlung von Vorurteilen und Mißverständnissen, die man etwa bis zum 18. Lebensjahr aufgabelt. Es sei viel besser, gründlich nachzudenken.

Was ist nun der „gesunde Menschenverstand“? Fast täglich hört man, daß Leute sich darauf berufen. Gesunden Menschenverstand anwenden heißt, die naheliegende Antwort auf ein scheinbar offensichtliches Problem zu finden, ohne über den Tellerrand zu schauen.

Michael sagt zu Peter: „Gehe bitte und kauf mir einen Laib Brot.“ Peter geht in den Laden an der Ecke und kauft einen Laib Brot. Er kommt zurück und gibt ihn Michael. „Aber nein“, sagt Michael, „ich wollte doch das Brot mit den Kirschen und den Rosinen drin und den Sonnenblumenkernen darauf.“ Peter antwortet, ein so spezielles Brot gibt es im Laden an der Ecke nicht, dafür muß man einen spezialisierten Bäcker finden - eine etwas schwierigere Aufgabe.

Bei wem liegt nun der Fehler? Hätte Michael seine Bitte genauer formulieren sollen, oder hätte Peter genauer nachfragen sollen, bevor er zum Laden losging?

Hier in Afrika erleben wir dieses Szenario sehr oft, auf internationaler Ebene. Ständig treffen wir Leute aus den Ländern der „Ersten Welt“, die ganz genau wissen, „was Afrika braucht“. Aber nur die wenigsten fragen die Afrikaner, was Afrika braucht.

Hier in Südafrika macht es uns überhaupt nichts aus, mit dem Auto zu einem Treffen in 100 oder 200 km Entfernung zu fahren. In Europa kann eine solche Entfernung oft schon bedeuten, daß man ins Ausland kommt. Die Verhältnisse in Afrika sind eben wirklich anders.

Kürzlich war ich eingeladen, in Südafrika bei einer Konferenz zu sprechen, die von radikalen grünen Extremisten veranstaltet wurde. Höchstwahrscheinlich hatten sie vor, mich öffentlich zu demütigen. Aber das hat nicht funktioniert. Es waren Vertreter aus mehr als einem Dutzend afrikanischer Länder anwesend, die dorthin eingeladen worden waren und offenbar nicht wußten, was sie erwartete. An einer Stelle in der Konferenz sprachen nacheinander ein schweizerischer Redner und ein deutscher Redner.

Der schweizerische Redner verkündete dem höchst erstaunten Publikum, die Schweiz sei in der modernen Entwicklung zu weit gegangen. Im Gegensatz dazu mache man es in Afrika richtig, dort lebe man in Harmonie mit dem Land und mit Mutter Erde. Es sei gut, daß viele afrikanische Frauen zum Fluß laufen, um Wasser zu holen, und es dann in Töpfen auf dem Kopf nach Hause tragen. Es sei wunderbar anzusehen, wie ein Mann sein Land mit einem Holzpflug und einem Ochsen pflügt, anstatt mit einem dieser schrecklichen, umweltschädlichen Traktoren.

Der Deutsche führte seine Lösung zur Stromversorgung in den Dörfern vor. Das war eine Autobatterie in einer Holzkiste, an der ein Solarmodul angebracht war, und auf der Kiste war eine einzelne Glühlampe. Die Idee war, daß die Hausfrau jeden Tag die Kiste herausträgt und den ganzen Tag in der Sonne stehen läßt, damit sie sich auflädt. Bei Sonnenuntergang soll sie sie dann wieder ins Haus tragen, damit die Glühlampe die Kerze ersetzt.

Diese europäischen Besucher, diese „Planetenretter“, präsentierten Lösungen, die ihnen der „gesunde Menschenverstand“ nahelegte, so wie sie sich das Denken und die Wünsche der Afrikaner vorstellten. Aber die anwesenden Afrikaner, ich eingeschlossen, empfanden diese Vorträge als eine ungeheure Beleidigung.

Es ist die Rede davon, eine neue Seidenstraße zu schaffen, um ein gewisses Spektrum der weltweiten Probleme anzupacken. Wie wäre es, eine neue Elfenbeinstraße zu schaffen, um die afrikanischen Probleme mit einem angepaßten anderen Spektrum an Einstellungen anzupacken? Früher kamen die Europäer nach Afrika und töteten sehr viele unserer Elefanten, zum Erstaunen der Einheimischen. Dann hackten sie das Elfenbein heraus und fuhren heim, um das faktisch gestohlene Elfenbein zu verkaufen. Das war die alte Elfenbeinstraße vor über einem Jahrhundert. Diese Ära des Massenabschlachtens endete etwa zu der Zeit, als Einstein die Gravitationswellen vorhersagte.

Die Elfenbeinhändler nutzen ihren „gesunden Menschenverstand“. Sie dachten sich: „Wir holen uns das wertvolle Elfenbein mit Gewalt und verkaufen es in Europa.“ Im Gegensatz dazu dachte Einstein sehr gründlich nach - weit in die Zukunft hinein, sozusagen.

Die Menschen des dunklen Kontinents wollen Licht, aber nicht aus einer Holzkiste, sondern aus Kernkraftwerken.

Wir wollen es erleben, daß ein Dutzend neue Städte in Afrika entstehen, die wie moderne Versionen von London, New York, Paris und Berlin aussehen.

In New York werden sich kluge Köpfe versammeln, um über die Herausforderungen beim Bau einer Weltlandbrücke zu beraten. Dazu muß man sich mit der Menschheit, wie sie wirklich ist, befassen.

Diese klugen Köpfe können leicht Landbrücken bauen, Brücken übers Wasser, Brücken durch den Dschungel - jede Brücke, die man sich nur vorstellen kann.

Ich wünschen dabei viel Glück und viel Freude. Wahre Errungenschaften können begeistern und erheitern.

Dr. Kelvin Kemm