Panafrikanismus und die Geopolitik des Krieges
Von Henda Diogène Senny
Henda Diogène Senny ist Vorsitzender der Panafrikanischen Liga –
UMOJA Kongo (LPU-C) und Präsident der Koordination der panafrikanischen
politischen Parteien (UMOJA-wa-3P). In der Internetkonferenz des
Schiller-Instituts am 9. April hielt er den folgenden Vortrag.
Liebe Referenten, liebe Teilnehmer, liebe Gäste, ich möchte dem
Schiller-Institut dafür danken, daß es mich im Namen unserer Partei, der
Panafrikanischen Liga – UMOJA Kongo, und der Coordination wa Partis Politiques
Panafricanistes, deren Präsident ich bin, eingeladen hat, auf dieser wichtigen
internationalen Konferenz zu sprechen.
Ich danke auch allen Rednern für die Qualität ihrer Beiträge, die sie vor
meiner Rede gehalten haben.
Sehr geehrte Damen und Herren, der Titel dieser Konferenz lautet: „Aufbau
einer neuen Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur für alle Nationen“. Und das
Thema, das ich in diesem Beitrag behandeln werde, lautet: „Was kann Afrika vom
Rest der Welt erwarten?“ Ein Thema, das wir wie folgt umformulieren:
„Panafrikanismus und die Geopolitik des Krieges“.
Sehr geehrte Damen und Herren! Der russisch-ukrainische Konflikt, der derzeit
Europa an seiner Ostflanke zerreißt, ist wegen der unmittelbaren und direkten
menschlichen Dramen, die er hervorruft, aber auch wegen seiner indirekten Folgen
auf wirtschaftlicher Ebene weit über das Gebiet der Konfrontation hinaus, ein
echtes Problem.
Wie jede geopolitische Krise, die meist von Kriegen begleitet wird, ist diese
jedoch in erster Linie eine Folge der geopolitischen Beständigkeit des Westens,
eines Systems, das zum ersten Mal seit dem Mittelalter eine der längsten
Perioden der Stabilität erlebt hat, nämlich von 1945 bis 2022, also 77
Jahre.
Wir neigen dazu, zu vergessen, daß die Heuchelei der Sieger am Ende des
Zweiten Weltkriegs sie dazu brachte, die Geopolitik zu verurteilen, indem sie
sie als „Nazi-Wissenschaft“ bezeichneten, die Hitler wissenschaftliche und
ideologische Rechtfertigungen für seinen „Lebensraum“, seinen Eroberungs- und
Herrschaftswillen geliefert hatte. Sogar Stalins Sowjetunion hatte die Lehre der
Geopolitik verboten und sie als eine verfluchte Disziplin des bösen Deutschlands
bezeichnet, die mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzen sei.
Wenn man jedoch genau hinsieht, ist der zweite Dreißigjährige Krieg
(1914-1945), einmal abgesehen von den rassistischen ideologischen Überlegungen
des deutschen Regimes, ein Ergebnis der geopolitischen Rivalitäten der
europäischen Mächte, die auf die vergangenen Jahrhunderte zurückgehen und nie
aufgehört haben.
In regelmäßigen Abständen hat jede europäische Macht versucht, den anderen
ihre Vorherrschaft aufzuzwingen. Wir erinnern uns an das Spanien von Karl V. und
dann von Philipp II., an das Frankreich von Ludwig XIV. und dann von Napoleon,
an das Deutschland von Wilhelm II. und dann von Hitler usw.: Jedes Mal, wenn
eine europäische Macht einen übermäßigen Appetit zeigt, wird der Widerstand der
anderen organisiert, um sie zu neutralisieren. Folglich wird jede europäische
Macht eine Geopolitik des Schutzes und der Eroberung aufbauen, indem sie einen
lebenswichtigen Raum in Europa und wenn möglich außerhalb sucht.
Das ist der Beginn des sogenannten „Wettrennens um Afrika“, eine Übertragung
der europäischen geopolitischen Konflikte auf Afrika im Hinblick auf die
Eroberung von lebenswichtigen Räumen und die Aufteilung Afrikas.
Zwei Arten von europäischen imperialistischen Mächten standen sich in Afrika
gegenüber: auf der einen Seite die alten Kolonialmächte wie Portugal, Frankreich
und England und auf der anderen Seite die jungen Imperialisten, Deutschland und
Belgien.
Die Berliner Konferenz von 1884-85 unter der Leitung Bismarcks, auf der
Regeln zur Organisation der Kolonisierung festgelegt wurden, war der erste
moderne Akt einer konzertierten und bewußten Ausbeutung durch die europäischen
Mächte, trotz ihrer jahrhundertealten Konflikte auf der einen und der
Proklamation der Menschenrechte auf der anderen Seite. Aufgeteilt in die
Einflußzonen der europäischen Mächte, diente Afrika seit dem Ende des 19.
Jahrhunderts allen westlichen Mächten als Lieferant von natürlichen und
mineralischen Ressourcen und als geopolitisches Ziel.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gaben die damaligen Siegermächte, die die Konturen
der neuen globalen Machtverhältnisse neu gezeichnet hatten, den Forderungen nach
Entkolonialisierung erst in den 1960er Jahren formell nach. Aber trotz des
Beitritts mehrerer afrikanischer Länder zur internationalen Souveränität wurden
die meisten politischen Führer, die der Unabhängigkeit eine echte
wirtschaftliche und kulturelle Realität verleihen wollten, gestürzt oder
ermordet.
Der emblematischste Fall ist die Ermordung von Patrice Emery Lumumba durch
eine belgisch-amerikanische Koalition im Januar 1961, kurz nachdem die
Demokratische Republik Kongo am 30. Juni 1960 unabhängig geworden war. Lumumba
steht am Anfang einer langen Liste afrikanischer Patrioten, die Opfer des
westlichen Imperialismus wurden.
Mit dem Fall der Berliner Mauer Ende der 1980er Jahre gaben die westlichen
Mächte zu verstehen, daß es keinen Grund mehr gebe, Diktaturen in Afrika zu
unterstützen, und daß es an der Zeit sei, daß die Demokratie die Oberhand
gewinne. Auch hier ist die Enttäuschung in Afrika groß. Die Einflußzonen sind
trotz geringfügiger Änderungen mit der Geopolitik der einzelnen
außerafrikanischen Mächte verbunden geblieben. Daran ändert auch das Auftreten
neuer aufstrebender Mächte wie China nicht viel.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das in Einflußzonen und Lebensräume
zersplitterte Afrika das Nebenprodukt der Geopolitik der westlichen
imperialistischen Mächte ist, die seit dem 19. Jahrhundert strukturiert und
organisiert wurde.
Diese westliche Geopolitik stützt sich auf eine Randgruppe der afrikanischen
Elite, die durch individuelle Vorteile geködert wird und den wahren Herren als
Vorwand dient. Dies wird als Neokolonialismus bezeichnet, der noch nie so
lebendig war wie heute, und zwar durch eine ganze Reihe von Mechanismen: geheime
Verteidigungsabkommen, die die Anwesenheit von Militärbasen rechtfertigen, die
Kontrolle über die Währungen wie den CFA-Franc, unfaire Handelsabkommen, die
Aufrechterhaltung von Exportwirtschaften, ungerechtfertigte Schulden usw.
Diese Einflußzonen sind jedoch Räume des organisierten Chaos, in denen sich
alle Arten von schändlichen Diktaturen tummeln. Folglich begünstigt dies keine
tragfähige Entwicklung.
Von den 1960er Jahren bis Ende der 1980er Jahre, am Vorabend des Falls der
Berliner Mauer, haben sich die Instabilität und das organisierte Chaos in Afrika
in 71 erfolgreichen Militärputschen und 118 Putschversuchen
niedergeschlagen.
Seit der Rückkehr des Mehrparteiensystems wurden die Militärputsche zwar
weniger, aber es gibt eine neue Kategorie ziviler Putsche: Verletzung und
Manipulation der Verfassungen, um die Staatsmacht zu erhalten,
Wahlmanipulationen durch die Kontrolle der mit der Organisation der Wahlen
beauftragten Kommissionen, usw.
Was kann Afrika vom Rest der Welt erwarten?
Afrika erwartet vom Westen, daß er mit seinen Doppeldeutigkeiten und seiner
Heuchelei aufhört. In Wirklichkeit haben sich die geopolitischen Traditionen des
Westens zwar in vielerlei Hinsicht gewandelt, aber ihre Struktur ist die gleiche
geblieben. Die Geopolitik des Meeres (England, USA, Japan), die Geopolitik des
Kontinents (Deutschland), die Geopolitik der Festung (Rußland), die Geopolitik
der Niederlage (Frankreich, Italien) haben im Laufe der Zeit ein Aggiornamento
im Hinblick auf die verschiedenen Revolutionen erfahren, aber sie brauchen
lebenswichtige Räume, um weiterhin Machtpositionen im Konzert der Nationen zu
behaupten.
Denn ohne die doppelte Revolution des Atoms und der Rakete würde der
russisch-ukrainische Krieg ganz Europa in Brand setzen und die ganze Welt
mitreißen, wie das der Westen so gut kann.
Deshalb wiederholen wir unsere Forderung nach einem Ende der westlichen
Heuchelei. Der Westen muß die Geopolitik aufgeben, um sich von schädlichen
Machtkomplexen zu befreien.
Die Afrikaner wissen, daß niemand sie aus dieser langen Knechtschaft befreien
wird, die ihnen der westliche Imperialismus durch afrikanische Königsmacher
auferlegt hat. Die Befreiung Afrikas wird das Ergebnis des Aufstands der
Gewissen sein, den die afrikanische Jugend jeden Tag durch den Panafrikanismus
gewinnt. Denn für uns kann der Frieden in der Welt nicht erreicht werden, ohne
die Kontrolle über die afrikanischen Einflußzonen, die die Ambitionen der
außerafrikanischen Mächte nähren, zu bekräftigen und zu übernehmen.
Der Panafrikanismus schlägt vor, jeder zweifelhaften Macht die afrikanischen
Ressourcen zu entziehen, um sie ausschließlich für das Wohlergehen der
afrikanischen Bevölkerung zu nutzen. Durch die Schaffung der Vereinigten Staaten
von Afrika wird Afrika nicht länger eine Beute für außerafrikanische Mächte
sein. Durch die Wiedervereinigung des afrikanischen Kontinents ermöglicht der
Panafrikanismus den Afrikanern, in aller Souveränität ihre Renaissance zu
erreichen, indem sie das Problem der Grenzen in einem friedlichen und versöhnten
Rahmen neu überdenken.
In diesen besorgniserregenden Zeiten bleibt der Panafrikanismus jedoch dem
Geist von Bandung oder dem Afro-Asiatismus treu, der 1955 zum Ausdruck kam, als
der Machtachse von Washington nach Moskau eine andere Achse von Accra nach
Jakarta entgegengesetzt wurde, die auf Gewaltlosigkeit und Blockfreiheit
beruht!
Umoja Ni Nguvu!
Ich danke Ihnen sehr!