Von Roudaires „Binnenmeer“ zur Blauen Revolution
Von Yves Paumier
In einem „Rückblick“ aus dem Jahr 2050
beschreibt der Autor, wie die Sahara durch die Versorgung mit Frischwasser
begrünt und die Unterentwicklung in diesem Teil Afrikas erfolgreich überwunden
werden kann.
1874 veröffentlichte die renommierte Zeitschrift Revue des Deux Mondes
einen Artikel des französischen Offiziers und Topographen François-Elie
Roudaire (1836-1885) mit dem Titel Ein algerisches Binnenmeer. Jules
Verne (1828-1905) griff die Idee 1905 in seinem Roman Der Einbruch des
Meeres auf und machte sie weithin bekannt.
Roudaire war sich sicher, daß er eine riesige
von Salzsümpfen bedeckte Senke, die sogenannten Schotts, entdeckt hatte, die
sich über fast 400 km von Algerien bis zum Golf von Gabès in Tunesien
erstreckte. (Abb. 1).

Abb. 1: Der französische Ingenieur und Landvermesser François-Elie Roudaire schlug 1874 den Bau eines Kanals vom
Mittelmeer zu den Schotts im Süden Tunesiens und Algeriens vor, um ein riesiges Binnenmeer zu schaffen.
Mit Unterstützung des Architekten Ferdinand de
Lesseps - dem Planer des Suezkanals und des Panamakanals - schlug er vor, einen
240 km langen Kanal zu bauen, um die Senke wieder mit Meerwasser zu füllen.
Roudaire argumentierte, neben anderen Vorteilen würde die Zuführung einer so
großen Wassermenge vor Ort das Klima verändern und die ganze Region in einen
„Brotkorb“ verwandeln. Damals ist der Plan aus verschiedenen Gründen - teils
guten, teils schlechten - gescheitert. Heute ist jedoch die Zeit gekommen, wo
dieses Projekt, wenn man von einer höheren konzeptuellen und wissenschaftlichen
„Plattform“ ausgeht, mit Erfolg umgesetzt werden kann.
Prolog
Die Völker Nordafrikas sind heute, im ersten Jahrzehnt
des 21. Jahrhunderts, in einer fast verzweifelten Lage. Ihre Volkswirtschaften
liegen in Trümmern, und der typische Egoismus der modernen Kultur verschlimmert
die Katastrophe noch. Auch wenn sich die betreffenden Volkswirtschaften zum
Teil stark unterscheiden, so haben sie doch eines gemein: ihre Abhängigkeit von
der Außenwelt unter dem neoliberalen Paradigma, das gegenwärtig in sich
zusammenbricht. Die Folgen im Innern sind katastrophal: Korruption, sinkender
Lebensstandard, Diskriminierung, eine verlorene Generation, etc.
Einen Ausweg aus diesem Gefängnis bietet nur
der Weg, den der amerikanische Ökonom und Staatsmann Lyndon LaRouche
vorgeschlagen hat:
- das Weltfinanzsystem unter Kontrolle bringen
durch die Rückkehr zum Trennbankensystem (dem Glass-Steagall-Standard, wie er
1933 von Franklin Roosevelt geschaffen wurde) auf der Grundlage staatlicher
Kreditschöpfung, um die imperiale Herrschaft einer monetaristischen Oligarchie zu brechen.
- die Agenten dieser Oligarchie von ihren
Machtpositionen im Weißen Haus und anderswo entfernen.
- die Weltwirtschaft durch große
Infrastrukturprojekte mit der fortgeschrittensten Technik wieder aufbauen und
die Biosphäre verbessern.
Ein entscheidender Anstoß für eine solche
Renaissance wäre der Bau der Nordamerikanischen Wasser- und Stromallianz
(NAWAPA), dem Projekt, Regenwasser aus dem Nordwesten des amerikanischen
Kontinents in die trockenen Regionen der USA und Mexikos zu leiten.
Das ist mehr als ein kolossales Bauprojekt für
eine Verbesserung des Landes und der Ressourcen, im Grunde ist es eine
kulturelle Revolution. In diesem Geiste wollen wir Roudaires brilliante Idee
mit den notwendigen Verbesserungen aufgreifen. Seine Idee mag 140 Jahre alt
sein, aber das Prinzip dahinter ist zeitlos und existiert seit Jahrtausenden,
seit die Menschheit durch die Entwicklung der Landwirtschaft zum ersten Mal
ihre Umwelt umgestalten mußte. Indem er auf diese Weise seine Schöpferkraft
mobilisiert, behauptet der Mensch seine Freiheit.
Um der Geschichte Leben einzuhauchen, schauen wir nun einige Jahrzehnte in die Zukunft.
Roudaireville-les-Palmiers, 2050
Unsere wunderschöne Stadt
Roudaireville-les-Palmiers wird bald eine halbe Million Einwohner haben. In den
letzten 40 Jahren haben sich junge Menschen aus dem Maghreb hier angesiedelt,
statt in die Vorstädte von Paris, Berlin, Amsterdam oder London zu ziehen.
Schließlich gibt es hier gutbezahlte Arbeitsplätze, und die Kinder haben Zugang
zur besten Krankenversorgung. In diesen vier Jahrzehnten wurden Tausende von
Arbeitsplätzen in der Agrarchemie und der Weltraumforschung geschaffen.
All das ist der „Großen Blauen Revolution“ zu
verdanken, die für einen Überfluß an Wasser sorgte. Was für eine Veränderung!
Noch zu Beginn des Jahrhunderts lag hier, soweit das Auge reichte, die endlose
Fläche der größten Wüste der Erde, der Sahara!
Zwar findet man noch hier und da
Wüstenflecken, doch an die Stelle der Fata Morganas sind Seen getreten, und
seit 2011 wurden im Rahmen des Paumier-Roudaire-Plans Tausende von Oasen
geschaffen. Inzwischen gibt es in jeder dieser Oasen eine oder mehrere Städte,
die alle durch ein Netz von Schnellbahnen miteinander verbunden sind, das sich
bis in ferne Länder erstreckt. Billiges Gemüse und die schönsten Obstgärten der
Welt - das ist das heutige Roudaireville-les-Palmiers!
Unsere Kinder sind neugierig: „Papa, erzähl
uns etwas über die vier Phasen der Blauen Revolution!“
Phase I: Tunesien, von Gabès nach Dscheridville
Beginnen wir am Anfang. Eines Morgens im Jahr
2011 traf ein ganz ungewöhnlich aussehendes Schiff aus dem Norden ein. Es
ankerte vor der Küste vor Gabès, dem tunesischen Fischereihafen, von wo aus
Phosphate exportiert werden. Das Erscheinen des Schiffes beunruhigte die Alten
und die Touristen, die auf der Insel Dscherba ihr Sonnenbad nahmen, aber die
Jungen liefen heran, um das seltsame Ding näher zu betrachten.
Die Ankunft des Schiffes war für die
Bevölkerung an der Küste nicht zuletzt deshalb so ungewöhnlich, weil es vorher
sehr umfangreiche Vorbereitungen gegeben hatte. In den Monaten zuvor hatte man
auf den Hügeln, die auf die Küste herabschauen, ein großes Vorratsbecken
angelegt, von dem aus ein breites Rohr in die Bucht und zu dem Ankerplatz
herabführte.
Einen Monat nach dem Eintreffen des Schiffs
konnte man an dem Vorratsbecken das Geräusch von fließendem Wasser hören, und
das Reservoir füllte sich schnell. Die Menschen waren doppelt überrascht -
erstens, daß jemand ein Wasserreservoir oben auf den Hügeln anlegt, denn Flüsse
fließen ja nicht bergauf. Und zweitens, weil es sich nun mit Wasser füllte. Wo
kam das Wasser her? Da erkannten die Erfahreneren, daß das, was da vor der
Küste ankerte, gar kein Schiff war, sondern ein kleiner Atomreaktor, mit dem
man das Wasser auf den Hügel hinaufpumpen konnte!
Tatsächlich diente das Becken auf dem Hügel nur
als eine Art Wasserturm für die nächste Phase. Wenn das Wasser wieder ins Meer
zurückströmt, kann man damit auch Strom erzeugen, und nur einen Monat später
liefen die Turbinen des Wasserkraftwerks, das zusammen mit dem Reaktor Strom
für die Stadt, vor allem aber für die neue Meerwasser-Entsalzungsanlage
erzeugte. Dieses neu erzeugte Trinkwasser wurde zunächst ins Wasserwerk der
Stadt geleitet. Seither tanzen die Strahlen der Sonne fröhlich im Wasser der
öffentlichen Springbrunnen.
Schauen wir nun weiter landeinwärts, in die
Regionen, die öde Wüste waren, und die Trockenzonen, wo nur Schafe weiden
konnten. Hier begann das eigentliche Werk! Als erstes wurde eine Leitung um den
Schott el-Fejal herum geführt und mit in Gabès erzeugtem Frischwasser gefüllt
(Abb. 2).

Abb. 2: Zur Entsalzung der Böden in den Schotts müssen diese „gespült“ werden durch Süßwasser,
welches das Salz aufnimmt und ins Mittelmeer ableitet. Die weitgehend entsalzten Böden werden
dann nach dem Vorbild der holländischen Polder nach und nach landwirtschaftlich nutzbar gemacht.
Aber was ist ein Schott? Im Süden Algeriens
und Tunesiens, am Fuß der Aures-Berge nahe der Sahara lag eine riesige, etwa
400 km lange Senke, wo sich in der Regenzeit Sümpfe und manchmal sogar kleine
Seen bildeten. Diese Senke war zum Teil von auskristallisiertem Salz bedeckt
und teilte sich in mehrere kleinere Senken, welche die Araber nach dem
arabischen Wort Schatt (für „Küste“),
als „Schotts“ bezeichnen. (Mancher wird durch Karl Mays Roman Durch die
Wüste eine Vorstellung von dieser Region haben.)
Nun begann die eigentliche Arbeit, eine
Herkules-Aufgabe, nämlich, das Salz wegzuschaffen, das sich seit Tausenden von
Jahren auf dem Boden dieser Senken abgelagert hatte. Das Frischwasser strömte
aus dem Aquädukt in den ersten Schott und spülte das Salz heraus; das nun
salzige Wasser wurde durch eigens angelegte unterirdische Leitungen von der
Größe eines Mannes ins Meer abgeführt. Regenfälle haben diesen Prozeß der
Ableitung des Salzes ins Mittelmeer noch beschleunigt.
Die Freude der Bewohner von Gabès über ihre
Springbrunnen war klein, verglichen mit der Begeisterung der Landbevölkerung,
denn die Aussicht, statt des Brackwassers auf dem Grund der Schotts jeden Tag
frisches Wasser im Überfluß zu haben, war wirklich revolutionär. Anfangs war
alles ja noch recht seltsam und verwirrend, aber die Zweifel schwanden schnell.
Die Blaue Revolution schritt sichtlich voran.
Allerdings brauchte das Wasser beträchtliche Zeit,
um sein Werk zu vollenden. Es war eine Arbeit, die man mit Bulldozern nicht
bewältigen konnte, weil das Salz so tief in den Boden eingedrungen war, daß man
es nicht schnell herausholen konnte. Aber das frische Wasser trug nach Plan das
Salz aus dem Boden, Monat für Monat. Am Ende war das meiste Salz beseitigt,
wenn auch noch nicht alles. Doch auch dafür gab es Lösungen. Die Agronomen
pflanzten Halphyten, das sind Pflanzen, die gerne auf Salzböden wachsen und
ihnen das Salz entziehen.
Erst in jüngster Zeit gelang es den
Biotechnikern, halophytische Reissorten zu züchten. Auch das war eine stille,
aber echte Revolution. Inzwischen gibt es auch halophytische Sorten aller
wichtigen Getreidearten, die einen großen Beitrag zur Welternährung leisten.
Nach einigen Jahren des Durchspülens entstand
anstelle des früheren Schotts ein echter Süßwassersee - eine viel bessere
Lösung als Roudaires ursprüngliche Idee eines Binnenmeeres aus
Mittelmeerwasser, das den Salzgehalt der Böden nur noch vergrößert hätte.
In ähnlicher Weise wie bei den berühmten
holländischen Poldern, wo dem Meer nützliches Agrarland abgerungen wird, nutzte
man ein Netz von Hunderten kleinen Kanälen, um aus der Wüste nützliches Land zu
gewinnen und die Verdunstung zu verringern. Auf dem neuen Ackerland wurden
zunächst besondere halophytische Pflanzen und Sträucher angepflanzt, die man
eigens für diesen Zweck gezüchtet hatte. Erst vor kurzem wurden sie von Palmen
abgelöst.
Früher war die Viehhaltung wegens des Mangels
an Futter und Weiden stark zurückgegangen. Nur arme Leute hatten immer noch
Schafe gehütet und ihre Herden in der Region herumgeführt. Aber jetzt waren die
Böden nicht mehr so trocken, und die Seen sorgten dafür, daß sich das
brachliegende Land in der weiteren Umgebung schnell erholte.
So gewannen die Bauern Zuversicht und gingen
nach und nach zu anderen Formen der Viehhaltung auch mit größeren Tieren über.
Die Region exportierte sogar Kamelmilch und -käse! Kamelmilch wird vor allem
von jungen Müttern geschätzt, weil sie für ihre Babys viel verdaulicher ist als
Kuhmilch. Kurz, es entwickelte sich eine neue Form der Landwirtschaft. Und im
Unterschied zum 20. Jahrhundert stand dabei der Bauer im Mittelpunkt.
Nach dem Schott el-Fejal wurden das Schott
el-Dscherid und das Schott el-Gharsa zurückgewonnen. Das zur Verfügung stehende
Trinkwasser zog viele Menschen an, und dort, wo sich einst nur die Stechmücken
vermehrten, gründeten wir Dscheridville, die Stadt, die aus der Fata Morgana
kam. Mit der menschlichen Zivilisation kamen die Vögel, insbesondere Zugvögel,
die das Klima angenehm fanden, nachdem sie jahrhundertelang einen Bogen um die
Region gemacht hatten.
Dann begann eine weitere, unverzichtbare Phase
der Blauen Revolution. Entlang des Wasserleitungsnetzes wurden Bohrtürme
aufgebaut - nicht um Öl zu fördern, sondern um das in Gabès erzeugte Süßwasser
in den Untergrund zu pumpen. Auf diese Weise wurden die wasserführenden
Schichten unter der früheren Wüste wiederbelebt. Dieses Grundwasser erlaubt
eine blühende Landwirtschaft und liefert täglich Trinkwasser.
Natürlich war dieses Grundwasser schon früher
da, es war die Quelle des Wassers in den Oasen inmitten der Sahara. Es lieferte
je nach Jahreszeit auch einen Teil des Wassers in den Schotts. Aber seit Beginn
des 21. Jahrhunderts hatte die übermäßige Nutzung diese Grundwasserschicht
immer stärker belastet. Hätten wir damals nicht eingegriffen, wäre sie
verlorengegangen. Dank der Frischwasserzufuhr in diese wasserführenden
Schichten und des Wassers, das einige hundert Kilometer weiter an den Berghängen
herabregnet und ins Grundwassser gelangt, schafft dieses Wasser weitere Oasen,
statt in die nun bereits gefüllten früheren Schotts abzufließen.
Phase II: Algerien: Der Kanal von Gabès nach Roudaireville-les-Palmiers
Diese Arbeiten in Tunesien blieben nicht ohne
Auswirkung im benachbarten Algerien. Plötzlich sah man dort, wie Oasen, die bis
dahin langsam immer mehr verkümmerten, wieder auflebten. Baumstämme, die man
lange für tot gehalten hatte, brachten plötzlich Zweige und und Blüten hervor.
Dann startete Algerien seine eigene Blaue Revolution und gründete
Roudaireville-les-Palmiers.
Im Schott Meghir hatten Heere von Arbeitern
bereits den Boden vorbereitet und ein riesiges Netz von Deichen geschaffen, das
den Schott in viele kleinere Becken unterteilte. Um den Entsalzungsprozeß zu
beschleunigen, wurde das Wasser nach und nach in die einzelnen neuen Becken
gelassen. Im Mittelpunkt des Systems wurde eine weitere Entsalzungsanlage
gebaut, um dem aus Tunesien zufließenden Wasser das Salz zu entziehen. Das
wieder auskristallisierte Salz wurde an einem geeigneten, dafür hergerichteten
Ort abgelagert. Richtig bearbeitet, konnte man es beispielsweise im Straßenbau
als Stützmaterial verwenden.
Auch der erdnahe Weltraum wurde zur
Unterstützung herangezogen. Mit satellitengestützten Sensoren, die das gesamte
Gebiet überblickten, konnte man den Prozeß Schritt für Schritt genau verfolgen.
Auf diese Weise wurden Roudaireville und die gesamte Region zu einem Begriff
für die Geologie und die Weltraum-Agrarforschung.
Unterdessen wurde das schwimmende
Kernkraftwerk vor der Küste von Gabès gegen ein anderes ausgetauscht, das
zehnmal soviel Strom erzeugen konnte. In einer schwimmenden Entsalzungsanlage,
die man dorthin verschifft und wie eine Insel im Golf verankert hatte, wurde
Süßwasser erzeugt. Für die Beschäftigten wurde nahebei ein Wohngebiet
geschaffen auf der Inselstadt Aquagabès.
Diese Ausweitung der Strom- und
Wassererzeugung ermöglichte den Beginn der nächsten Phase: den Bau eines
Bewässerungskanals von Gabès zum neugegründeten Roudaireville in Algerien.
Dieser Kanal, der durch Südtunesien nach Algerien führt, wurde als
menschengemachter Fluß gestaltet, und an seinen Ufern wurden Bohrtürme
angelegt, die Wasser in die Grundwasserschichten einleiteten.
Nachdem nun reichlich Wasser in die Sahara
floß, wuchs dort die Bevölkerung - und die Zahl der Vögel. Dank der Blauen
Revolution gewann Algerien an Souveränität. Statt billiges Öl und Gas zu
exportieren, leitete man das Erdgas, das bis dahin von Hassi Messaoud zur Ausfuhr
direkt in die Häfen gebracht worden war, durch eine neue Pipeline in die neuen
Städte in der Schott-Region.
Der Staat gründete in Roudaireville eine große
petrochemische Fabrik. Die Bevölkerung in der Region wuchs stark an und
richtete Fabriken und Bergwerke ein, nachdem Straßen und Schnellbahnen für den
Verkehr entstanden waren. Die Technik des gleisgeführten Luftkissenfahrzeugs
(Aérotrain), deren Entwicklung Frankreich in den 1970er Jahren leichtfertig
eingestellt hatte, bot hier hervorragende Einsatzmöglichkeiten. Dank dieses
„Entwicklungskorridors“ gelang es, hier verarbeitende Industrie anzusiedeln.
Sonnenstrahlen und Wasser sind alles, was man
braucht, damit mikroskopische Algen wachsen können, und hier werden sie in
großen, vom Menschen angelegten Seen gezüchtet. Man muß nur noch Nährstoffe wie
z.B. Kohlendioxid zuführen, Stickstoff aus der Öl- und Gasindustrie sowie
Phosphate aus den lokalen Vorkommen. Diese Algen dienen der Fischzucht,
verdrängen aber auch zunehmend das sonst übliche Futter in der Viehhaltung.
Nachdem diese produktive Wirtschaft in Gang
gekommen war, wurden die Phosphatwerke, die bis dahin Gabès verschmutzt hatten,
hierher umgesiedelt, wo sie die Umwelt nicht mehr verschmutzen, aber viele
nützliche Minerale hervorbringen. Um die Algenzucht entwickelte sich eine ganze
Industriebranche. Ihre Errungenschaften dienen auch der Erforschung der
tropischen Landwirtschaft. Der alte Hafen von Gabès zieht inzwischen viele
Touristen und Amateurgeologen an.
Die Zusammenarbeit zwischen Tunesien und
Algerien bei der „Blauen Revolution“ führte auch zu einer Weiterentwicklung des
Völkerrechts. Da das fließende Wasser keine Landesgrenzen kennt, entwickelte
sich ein neuer Zweig des Besitzrechtes auf der Grundlage des Wasserrechtes und
des Westfälischen Friedens, der nach dem Dreißigjährigen Krieg das „Recht des
Stärkeren“ durch den Grundsatz des „Nutzen des anderen“ ersetzte, d.h. die Idee
der gegenseitigen Weiterentwicklung, wie es dem Naturrecht entspricht.
Prof. Aly Mazaheri zufolge stammt das Wasserrecht
aus Persien. Wenn es heute im Iran, in der Türkei, in Andalusien oder Algerien
große Wasserleitungen gibt, die alle Nutzer fair mit Trinkwasser versorgen und
erlauben, heute hier und morgen irgendwo anders zu bewässern, ist die Grundlage
hiervon, daß diese Prinzipien übernommen und passende Gremien zur Regulierung
des Verbrauchs geschaffen wurden. Tatsächlich hatte sich dieses Recht
historisch in den persischen Wüsten entwickelt, und es richtet sich nicht nach
den Besitzverhältnissen an der Landoberfläche an sich, sondern geht davon aus,
wo das Wasser in einem Brunnen herkommt und wie es entdeckt wurde.
Die meisten internationalen Organisationen,
die gegen Ende des 20. Jahrhunderts zur Klärung von Wasserkonflikten in
Grenzregionen geschaffen wurden, waren (abgesehen davon, daß es oft
Agentennester waren) bei den Wassernutzungsrechten ähnlich vorgegangen wie im
Seerecht: man respektierte praktisch ein Recht auf Piraterie, wie es die
historische Macht des Britischen Empire mit seinem empirischen Ansatz und
Gewohnheitsrecht durchgesetzt hatte. In anderen Worten, man schuf ein
„positives Recht“ auf der Grundlage des „Rechts des Stärkeren“.
Die Prinzipien der neuen Gesetze über das
Recht auf Wasser erlaubten uns, Grenzkonflikte zu lösen, indem man dem Prinzip
der gegenseitigen Entwicklung folgt, etwas, was mit dem modernen positiven
Recht des Westens niemals möglich gewesen wäre.
Phase III: Die Sahara: Die Erschließung des Kontinents
Fast jeden Tag entstand in einer früheren
Oase, die bis dahin verloren irgendwo im Sand und Gestein gelegen hatte, eine
neue Stadt. Meist lag sie an Berghängen, wo es angenehmer war zu leben, während
die Ebene Wüste blieb. Die Geologen machten große Fortschritte und konnten
anhand ihrer Kenntnis der unterirdischen Wasseradern Empfehlungen geben, wo die
nächste Stadt liegen solle. Was zunächst als eine riesige, uniforme Masse
erschien, erwies sich als eine Vielfalt verschiedener Möglichkeiten, die
jeweils eigene Ressourcen boten und immer neue Talente in dieses Eldorado zogen.
Nicht nur die Blaue Revolution als solche
ermöglichte die Erschließung dieser abgelegenen Gebiete der Sahara, sondern
auch der Bau großer Straßen und Bahnlinien als Verkehrsachsen. Eine dieser
Achsen verband Tunesien und Algerien mit der Region um den Tschadsee und
Zentralafrika, die zweite Marokko und Algerien mit dem Nigerdelta und
Westafrika. Diese Aktivitäten setzten dem Exodus nach dem Norden ein Ende, und
ein Teil der Bevölkerung des Maghreb zog aus der übervölkerten Region an der
Mittelmeerküste in diese jetzt attraktiven Orte.
Es entwickelte sich eine
„Oasen-Landwirtschaft“ mit Getreidefeldern und Zitrusgärten unter Palmen. Hier
und dort konnte man Morgentau sehen. Aus dem Nichts entstanden zahllose
Mikroklimata. Was einst lebensfeindliche Wüste war, ernährt nun nicht nur
Nordafrika, sondern auch ferne Kontinente. Zunehmend verwendet man Bambus, Gras
und Algen anstelle von Erdöl zur Plastikherstellung, aber auch, um die Böden
fruchtbarer zu machen. Die Winde der Sahara wehen nun selten und sanft.
Phase IV: Auf in den Kontinent, von Gabès zum Tschadsee
Mithilfe des Wassers, das zunächst von Gabès
und später auch von anderen Regionen Algeriens, Marokkos und Mauretaniens
herbeigeführt wurde, wurde die Sahara zurückgedrängt. Die Libyer, die fossiles
Wasser aus den Grundwasserschichten der Sahara ans Mittelmeer pumpten, haben
inzwischen beschlossen, den Lauf ihres „Großen künstlichen Flusses“ umzukehren
und stattdessen Süßwasser in den Süden zu leiten. Vor einigen Jahren startete
Libyen ein weiteres Großprojekt, die Wiederbelebung des „zweiten Nils“, eines
Flusses, der vor Jahrhunderten austrocknete und dessen Lauf 2009 wiederentdeckt
wurde. Heute fließt das Wasser des zweiten Nil wieder über libysches Land.
Eine weitere radikale Transformation der Wüste
entstand aus der erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen Ägypten, dem Sudan sowie
anderen Ländern weiter im Süden, die im letzten Jahrzehnt gemeinsam den Nil
selbst regulierten.

Abb. 3: Unter weiten Teilen der Sahara gibt es
große unterirdische Wasservorkommen (auf dieser Karte dunkel/blau gefärbt), die
für eine Entwicklung der Region genutzt werden können.
Aber das entscheidende Bindeglied war die
Wiederauffüllung des Tschadsees, ein Projekt, das ebenfalls schon früh in
diesem Jahrhundert begonnen wurde. Dieser südlich der Wüste gelegene See ist
die Hauptstütze eines Netzes von Wasseradern, das den Tschad, ein Drittel der
Zentralafrikanischen Republik und Teile von Kamerun und Nigeria durchzieht
(Abb. 3).
Hinsichtlich des Wassers bildet dieses Netz
von Wasseradern eine einzige, riesige Einheit: Es ist ein endorheisches Becken,
d.h. eine Kontinentalzone, aus der das Wasser nicht in die Meere abfließt,
sondern dort verbleibt. Nur weil es gelang, den Kampf für dieses Netz als
ganzes zu gewinnen, war es möglich, die Wüste zu besiegen. Jeder lokale Versuch
unter begrenzten besonderen Umständen hätte keine Zukunft gehabt, es wäre eine
zum Scheitern verurteilte Illusion gewesen. Wie schon gesagt, der Grund dafür,
daß unsere Länder heute gutnachbarliche Beziehungen auf der Grundlage der
Zusammenarbeit haben, ist der, daß wir uns für die Blaue Revolution
zusammengetan haben. Aus dem Ringen um Frischwasser, das man sich erzeugen und
teilen muß, entwickelte sich eine Kultur des Gemeinwohls, des gemeinsamen
Schicksals. Es war das Ende der Notbehelfe und des „Jeder für sich“.
Heute, im Jahr 2050, ist die Menschheit in der
Lage, den Mars zu besiedeln, und unsere Entdeckungen haben dazu beigetragen:
Jetzt, wo wir das Leben in die Wüste zurückgebracht haben, hat die Idee des
Terraforming des Mars nichts Erschreckendes mehr.