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  August 1998 Bildungspolitik

Bildung zur schönen Menschlichkeit
Wilhelm von Humboldts Bildungsideal

Von Rosa Tennenbaum
(Stellvertretende Vorsitzende des Schiller-Instituts)

Die Frage der Erziehung erfreut sich plötzlich großer Aufmerksamkeit, seitdem sich die Hiobsbotschaften über sinkendes Leistungsniveau an den Schulen, Orientierungslosigkeit, wachsende Gewaltbereitschaft, Jugendkriminalität einerseits und Klagen über Schmalspurwissen, Mangel an naturwissenschaftlicher Befähigung, zunehmendes funktionales Analphabetentum andererseits unter Schulabgängern häufen. Bundespräsident Herzog hat die Frage der Bildung gar zum "Megathema" für den Wahlkampf erhoben, wobei schon allein die saloppe Wortwahl ahnen läßt, wie dieses für unsere Zukunft so entscheidende Thema abgehandelt werden soll: Als Megathema eben, bei dem viel leeres Stroh gedroschen und wenig gesagt, und schon gar nicht gehandelt wird.

Aus der Debatte tunlichst herausgehalten wird der Name Wilhelm von Humboldt und der Begriff humanistische Erziehung. Beide sind, um in der Terminologie unseres Bundespräsidenten zu bleiben, "megaout". Immerhin fühlte sich Bundesbildungsminister Jürgen Rüttgers bemüßigt, Humboldt öffentlich für tot zu erklären. Nun, gestorben ist er schon am 8. April 1835, und wir trauen trotz aller Skepsis dem Herrn Bildungsminister zu, daß ihm das bekannt ist. Doch offenbar geistern die Ideen des großen Bildungsreformers immer noch durch zu viele Köpfe, und diesem Umstand galt wohl die reichlich verspätete Todesanzeige. Rüttgers lebt zwar, wie jeder weiß, doch geben seine Ideen und sein Wirken davon wenig Zeugnis.

Dabei gibt es so viele Parallelen zwischen heute und den Verhältnissen, wie sie zu der Zeit, als Humboldt die Leitung der Sektion für Kultus und Unterricht in Preußen übernahm, daß sich ein gründliches Studium geradezu aufdrängt. Berufsorientierte Ausbildung, wie heute von allen Parteien als neue Erkenntnis gefordert wird, war verwirklicht; die Masse der Schüler wurde um die Wende zum 19. Jahrhundert früh schon auf ihren künftigen Broterwerb vorbereitet, was übrigens auch für den Adel galt, nur daß auf den Ritterschulen an Stelle von Statistik, Physik, technischem Zeichnen u.ä., die an den Mittelschulen den Schwerpunkt bildeten, Reiten, Fechten und Tanzen gelehrt wurden. Berufsorientierte Ausbildung war unter dem Einfluß der Aufklärung zur Regel geworden, und selbst die Universitäten waren im Begriff, zu technischen Hochschulen abzusinken. Es ist allein Wilhelm von Humboldt zu verdanken, daß dieser verhängnisvolle Weg abgebrochen wurde.

Unter dem Freiherrn vom Stein, dem genialen Kopf der preußischen Reformer, war der Staat nach der vernichtenden Niederlage gegen Napoleon einer durchgreifenden Reform unterzogen worden; namentlich die Bauernbefreiung, die Ständereform und die Gemeindeordnung setzten neben der Heeresreform von Scharnhorst und Gneisenau menschliches Potential, das durch eine Fülle von unsinnigen Auflagen und Restriktionen verschüttet worden war, frei und machten es dem Staate nutzbar. Vom Stein wollte die Staatsreform durch eine Bildungsreform krönen und absichern. "Am meisten aber," schrieb er in seiner Nassauer Denkschrift, "ist von der Erziehung und dem Unterricht der Jugend zu erwarten. Wird durch eine auf die innere Natur des Menschen gegründete Methode jede Geisteskraft von innen heraus entwickelt, und jedes edle Lebensprinzip angereizt und genährt, alle einseitige Bildung vermieden, und werden die bisher oft mit sichtlicher Gleichgültigkeit vernachlässigten Triebe, auf denen die Kraft und die Würde des Menschen beruht..., sorgfältig gepflegt: so können wir hoffen, ein physisch und moralisch kräftiges Geschlecht aufwachsen und eine bessere Zukunft sich eröffnen zu sehen."

Wilhelm von Humboldt, der damals preußischer Gesandter beim Heiligen Stuhl in Rom war, sollte diese Aufgabe verwirklichen. Humboldt sträubte sich, doch Stein beharrte: "Herrn von Humboldt kann ich nicht loslassen. Ich habe ihn des Königs Majestät als Chef des Erziehungswesens vorgeschlagen. Der Beruf ist ehrenvoll. Die Auswahl der Mitarbeiter bleibt ihm überlassen." Humboldt wollte Zusicherungen, daß er in diesem Amte würde frei nach eigenem Gutdünken handeln, "wirklich etwas Eigenes leisten können"; er erhielt sie nicht. Vom Stein hatte auf Befehl Napoleons am 25. Dezember 1808 nicht nur alle Ämter verloren, er war geächtet worden und hatte das Land verlassen müssen, und der König dachte nicht an solche Zugeständnisse. Am 17. Dezember 1808 wurde Wilhelm zum Bildungsminister ernannt, ohne daß man zuvor seine Zustimmung eingeholt hätte, und er gehorchte. Wie zuvor vom Stein, folgte auch er dem Ruf des Vaterlandes "in eine undankbare und widerliche Laufbahn" (vom Stein).

 

Humboldts Bildungskonzept

Die zeitlose Bedeutung von Humboldts Bildungsidee liegt darin, wie er Bildung definierte. Lernen ist heute das, was es bis zu seinem Eingreifen war: Einpauken von Fakten, Regeln und Zahlen; Bildung besitzt der, der dieses gespeicherte Wissen am rechten Ort klug wiedergeben kann. Humboldt bezeichnete diese Lehr- und Lernmethode als geistloses Auswendiglernen, als totes Wissen, mit dem man im Leben nichts anfangen könne. An die Stelle bloßer Wissensvermittlung setzte er die umfassende Bildung des jungen Menschen. Ein Kind brachte eine Fülle von Begabungen und Fähigkeiten mit, die geweckt und entwickelt werden mußten. Da sich die meisten Anlagen oft erst spät offenbaren, mußte ein Fundament geschaffen werden, auf dem dann alle speziellen Fähigkeiten, seien es nun musische, naturwissenschaftliche oder handwerkliche, weiter ausgebildet werden konnten.

"Die Erziehung soll nur, ohne Rücksicht auf bestimmte, den Menschen zu erteilende bürgerliche Formen, Menschen bilden," lautete Wilhelms Grundsatz. Er sah zwar ein, daß das Kind später in einem Beruf seinen Mann stehen, daß es seinen Lebensunterhalt verdienen mußte, doch das war nicht der Zweck der Schule, ganz im Gegenteil. Die Schule war der Raum, den jedes Kind durchwanderte, bevor es von den unmittelbaren Bedürfnissen des Lebens bedrängt wurde. Hier sollte der künftige Handwerker wie der angehende Professor eine freie geistige Welt kennenlernen, hier durfte auch das Kind aus einfachsten Verhältnissen eine Zeitlang verweilen, bevor das Leben ihm Fesseln anlegte. Es sollte nicht auch noch in der Schule mit den Kümmernissen und der Enge des Alltags strapaziert werden, sondern unbeschwert lernen, entdecken und sich entwickeln können.

"Je tiefer der Mensch, der nicht höher gebildet werden kann, leider ins Leben eintauchen muß, desto sorgfältiger halte man ihn bei dem wenigen Formellen, was er rein zu fassen imstande ist," forderte Wilhelm, wobei er unter "formell" oder "formal" genau das Gegenteil dessen verstand, was der Begriff heute bedeutet. Formal leitet sich von der griechischen Vorstellung der Form ab, und in der deutschen Klassik verstand man darunter alles, was direkt auf die Gestalt wirkte, was dem Menschen Form, Charakter gab. Das waren in erster Linie Ideen, die das Denken des Kindes ausbildeten, seiner Vorstellungswelt Struktur und Volumen gaben.

Die "formale und proportionierlichste Bildung aller Kräfte" war das Ziel der Erziehung. Der Schulunterricht mußte sich mit den prinzipiellen Dingen der menschlichen Natur und des menschlichen Daseins befassen, er mußte die Grundfragen der menschlichen Existenz und die Sinnfragen des Lebens behandeln, und das vom ersten Tag an, denn je kürzer der Unterricht, desto weniger Zeit galt es zu verschwenden. Das Kind sollte zum schönen Charakter, zum vollen Menschen, nicht zum Berufstätigen oder zum Staatsbürger gebildet werden. Das alles leistete das Leben, und die Schule hatte dem nicht vorzugreifen.

Bildung sollte alle Kräfte des Menschen üben, seine geistigen wie seine emotionalen. Denken und lernen sind keine objektiven Prozesse, wie seit der Aufklärung behauptet wird, beides findet im Kopf statt, in einem individuellen Kopf eines einzelnen Menschen. Denken und Lernen sind also auch emotionale Prozesse. Beide, Verstand und Gemüt, müssen gebildet, geformt werden; das meint Humboldt, wenn er von der Bildung des ganzen Menschen spricht. In den Mittelpunkt der Anstrengungen stellte er die Entwicklung des Denkens. Indem das Kind mit der Ideenwelt untergegangener Völker wie z.B. den Griechen bekannt gemacht wird, indem es große Entdeckungen nachvollzieht, lernt es seinen eigenen Geist entdecken und macht die Erfahrung, daß es selbst wesentliche Einsichten erringen kann. So wird das Kind sich seiner selbst bewußt, es entwickelt Individualität, wird zur Persönlichkeit.

Das Einmalige, das Besondere, das den Menschen prägt, wollte er erfassen, das Individuelle, das den einzelnen aus der Masse heraushebt, aufspüren. Individualität erlangen wir nur in einem Prozeß des tätigen Bemühens, der aktiven Aneignung von Ideen. Hier liegt "die Freiheit des Menschen... sein eigentlicher Charakter". Der Mensch ist ein aktives Wesen, Energie ist das Prinzip seiner Tätigseins. Der Mensch sehnt sich nach Tätigkeit, er hat das Bedürfnis, die Kräfte seiner Natur zu erhöhen, und das ist ihm wichtiger als das Resultat selbst. Diese Kräfte zu schulen, war Aufgabe des Unterrichts. Es kam also nicht in erster Linie auf die konkrete, vorzeigbare Leistung an, sondern der Unterricht sollte die "zugrundeliegenden Kräfte" entwickeln. Als Grundkräfte galten ihm Verstand, Gefühl, Einbildungskraft und Anschauung.

Neigung zu Höherem, zur Idealität ist dem Menschen angeboren. Auch die Quelle der Freiheit liegt in ihm selbst. Er kann sich z.B. entscheiden, über sich selbst hinauszuwachsen und sich an seiner gesamten Gattung orientieren. Seine Individualität liegt in seiner Besonderheit, seine Idealität in seinem Streben nach Selbstvervollkommnung.

Bildung definiert Humboldt als "durchgängige Wechselwirkung des theoretischen Verstandes und des praktischen Willens". Sie orientiert sich an den großen, einmaligen Schöpfungen und Entdeckungen der Menschheit, die sich der moderne Mensch in einem aktiven, kritischen Prozeß einverleibt. Bildung heißt nicht, irgendeinen "Stoff zu transportieren", wie wir sagen, sondern die "Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt"; dabei geht es darum, "beide einander ähnlicher zu machen". Dies verlangt auch Empfänglichkeit für die Gegenstände, die die Welt außer uns kennzeichnet, denn "nur die Welt umfaßt alle nur denkbare Mannigfaltigkeit". Der einzelne muß Bildung selbst in einem subjektiven Prozeß hervorbringen, und dazu braucht er die Anknüpfung an die Welt.

Die Gegenstände der Bildung finden sich in der überlieferten Kultur. Dort, in den "historisch ausgeprägten Formen", spiegelt sich die jeweilige Vollkommenheit der Menschheit auf einer bestimmten historischen Stufe wider. Die Lehrgegenstände müssen in ihrer Struktur idealisch sein und die geistigen Grundkräfte des Menschen herausfordern, müssen zugleich den Verstand entwickeln, die Anschauung und das Gefühl vertiefen und die Einbildungskraft erregen. Es soll nicht ein Vielerlei und Nebeneinander von Lehrgegenständen geben, sondern jeder einzelne muß auf seine Fruchtbarkeit und Mannigfaltigkeit für die Entwicklung der Grundkräfte überprüft werden.

 

Der Mensch wird Urheber seines Denkens und Handelns

Um diesen beabsichtigten Zweck zu erreichen, verlangt Humboldt, daß aus dem Unterricht "alles nur irgend Mechanische entfernt werden (müsse), und es ist also der Hauptgrundsatz der ganzen Methode, daß das Kind immer das volle und deutliche Bewußtsein haben muß, was es in jedem Augenblick hört, sagt und tut, und warum so und nicht anders gehandelt wird. Indem es so gezwungen wird, von jeder, auch der kleinsten Sache Rechenschaft zu geben, lernt es zu gleicher Zeit klar denken, bestimmt wollen und vernehmlich sprechen." Der Unterricht muß dem Schüler immer transparent sein, er muß die einzelnen Lernschritte als notwendig und folgerichtig verstehen und nachvollziehen können.

Menschen bilden, lautete der Grundsatz, und Humboldt wurde nicht müde das zu wiederholen. Menschen, nicht Sklaven eines bestimmten Berufes oder Marionetten einer bestimmten Konfession, sondern volle, ganze, freie Menschen, bei denen alle Anlagen des Leibes und der Seele von innen heraus entwickelt, zu tätigen Kräften des Erkennens und Handelns gebildet werden. Dabei kommt auch die Eigentümlichkeit des einzelnen zu ihrem Recht, denn Mannigfaltigkeit und Besonderheit der Bildung machen den Reichtum der Menschheit aus, wohingegen Gleichförmigkeit Armut bedeutet. Der höchste Inhalt und das wahre Glück des Menschen ist freie und harmonische Betätigung aller Kräfte der zur eigentümlichen Gestalt entwickelten Persönlichkeit.

 

Die Bedeutung der Philologie

Eine wesentliche Aufgabe fällt der Philologie zu. Die Sprache verbindet die geistige und sinnliche Natur des Menschen. Denken ist ein rein geistiger, innerlicher Prozeß, der nach außen sichtbar gemacht wird durch Sprache. Gleichzeitig ist sie auch das bildende Organ des Gedankens, denn sobald eine Idee nicht mehr im Vorbewußten stehen bleibt, sobald sich der Gedanke konkreter ausbilden will, braucht er Sprache. Ich kann also nur denken, was ich in Sprache ausdrücken kann, ein Umstand, der bei der allgemeinen Sprachverwilderung, ja Sprachlosigkeit, die unter unseren Zeitgenossen herrscht, einem recht ungemütlich werden läßt, denn das Unvermögen, sich auszudrücken, spiegelt eine ebensolche Leere, eine ebensolche Verwirrung im Denken wider.

Sprache entsteht in der Ideenwelt, wird aber durch einen sinnlichen, physischen Akt geäußert. Gleichzeitig vollzieht sich im Sprechen ein Akt der Selbstreflexion. Ich äußere eine Idee, also einen Gegenstand der Vernunft, durch Sprechen; die Laute werden über das Ohr aufgenommen und lassen in dem Kopf des anderen die gleiche Idee lebendig werden. Der Schall kehrt aber auch zu meinem eigenen Ohr zurück und wird von mir wieder aufgenommen; der Gedanke wird im Sprechen also auch gespiegelt und überprüft. Sprache ist immer Metapher, oder wie Humboldt es ausdrückt: Wörter sind Wesen mit eigenem Leben, die in der Vorstellung Assoziationsketten wachrufen, die sich in jedem Kopf gleichen, aber doch in ihrer konkreten Anschauung unterschiedlich sind.

Sprachunterricht drängt sich also geradezu als idealer Gegenstand zur Bildung von Geist und Gemüt auf. Das gilt zuallererst für die Muttersprache, über deren besonderen Charakter der Schüler bewußt gemacht werden soll. Jeder Sprachunterricht ist nützlich, weil wir, indem wir eine fremde Sprache lernen, in eine andere geistige Vorstellungswelt eingeführt werden. Verschiedene Völker haben unterschiedliche Wege eingeschlagen, um sich Welt und Natur anzueignen und darzustellen. Über ihren Sprachbau lernen wir jedesmal eine andere Denkart kennen, durch die wir wiederum unserer eigenen Ideenwelt bewußter werden.

 

Neuhumanismus und Klassik

Seine neuhumanistische Auffassung vom Griechentum ist der Schlüssel zu Humboldts Bildungstheorie. "Es gibt außer allen einzelnen Studien und Ausbildungen des Menschen noch eine ganz eigene, welche gleichsam den ganzen Menschen zusammenknüpft, ihn nicht nur fähiger, stärker, besser an dieser oder jener Seite, sondern überhaupt zum größeren und edleren Menschen macht, wozu zugleich Stärke der intellektuellen, Güte der moralischen und Reizbarkeit und Empfänglichkeit der ästhetischen Fähigkeiten gehört. Diese Ausbildung nimmt mehr und mehr ab, und war in sehr hohem Maße unter den Griechen. Sie nun kann, dünkt mich, nicht besser gefördert werden als durch das Studium großer und gerade in dieser Rücksicht bewunderungswürdiger Menschen, oder, um es mit einem Wort zu sagen, durch das Studium des Griechischen," schrieb er an seinen Freund, den berühmten Philologen Friedrich August Wolf im Dezember 1792.

Humboldt hielt das Altgriechische für besonders geeignet, um junge Menschen zu bilden. Ihre Sprache konnte die hehrsten Ideen des Geistes und die zartesten Regungen des Herzens deutlich und leidenschaftlich ausdrücken, sie besaß einen vollendeten Sprachbau und herrlichen Wohlklang. Mehr als das noch wogen die Werke, die die Griechen uns hinterlassen haben und die uns von ihrer Ideenwelt Zeugnis geben. Die Hellenen waren die erste originale Hochkultur. Sie haben aus sich heraus eine hochentwickelte Sprache, herrliche Dichtung und Skulptur und tiefe Einsichten in der Philosophie entwickelt. Sie haben eine unendliche Fülle von Kunstwerken hervorgebracht, in denen sie die Idee vom Menschen verherrlichen. Sie verstanden es "mit der höchst möglichen Freiheit von stoffartigem Interesse immer nur diese Form vor Augen zu haben, diesen Übergang vom Individuellen zum Idealen, vom Einfachsten zum Höchsten, vom Einzelnen zum Universum, ihn wie einen freien Rhythmus, nur mit ewig verschiedenem untergelegtem Texte überall ertönen zu lassen."

"Nur am griechischen Geist bildet sich der vollkommene Mensch," denn der Grieche hat immer eine ideale Vorstellung vor Augen; er bildet nicht nur die Wirklichkeit ab, sondern wird in allen Anstrengungen von einer höheren Idee geleitet, geht von der Idee auf das Konkrete. "Er suchte immer das Notwendige und die Idee, mit Hinwegwerfung der zahllosen Zufälligkeiten des Wirklichen." Dabei behandelt er alles mit Leichtigkeit, der Grieche ist selbst im tiefsten Schmerz noch heiter und in der überschwenglichsten Freude nicht ausgelassen. Er besitzt einen "Sinn, der alles in Spiel verwandelt, und doch nur die Härten des Irdischen wegwischt, aber den Ernst der Idee bewahrt."

Sie verbinden größte Individualität mit Universalität, der einzelne Bürger war Repräsentant seines Zeitalters, so daß man nicht, wie Schiller klagte, "von Individuum zu Individuum herumfragen muß, um die Totalität der Gattung zusammenzulesen". Schiller verglich im sechsten der ästhetischen Briefe die heutige Form der Menschheit mit der griechischen, die "sich mit allen Reizen der Kunst und mit aller Würde der Weisheit vermählte, ohne doch, wie die unsrige, das Opfer derselben zu sein. Die Griechen beschämen uns nicht bloß durch eine Simplizität, die unserm Zeitalter fremd ist; sie sind zugleich unsre Nebenbuhler, ja oft unsre Muster in den nämlichen Vorzügen, mit denen wir uns über die Naturwidrigkeit unsrer Sitten zu trösten pflegen. Zugleich voll Form und voll Fülle, zugleich philosophierend und bildend, zugleich zart und energisch sehen wir sie die Jugend der Phantasie mit der Männlichkeit der Vernunft in einer herrlichen Menschheit vereinigen."

Wie Schiller, Goethe, Herder, Winckelmann sah Wilhelm im Griechentum die Idee der Humanität verkörpert. "Die Griechen sind uns nicht bloß ein nützlich historisch zu kennendes Volk, sondern ein Ideal," stellte er fest. Hier fand man noch den "ganzen" Menschen, der als schöne Seele die Einheit von Körper und Geist, von Pflicht und Neigung, von Welt und Individualität verkörperte. Hier stellt sich uns die reine Menschheit dar, hier liegt die Quelle ästhetischer, ethischer und historischer Bildung schlechthin. Hier waren auch Ästhetik und Politik noch eins. Die unglückliche Teilung des Menschen in verschiedene "Seiten" herrschte noch nicht.

Humboldts Griechentum ist keine Schwärmerei, es basiert auf seiner idealen Anschauung des Menschen, die er dort am schönsten verwirklicht sieht. "Was man auch von der Schönheit und Erhabenheit des Ramayana, Mahabharata (Werke aus der indischen Hochkultur des Sanskrit, das Humboldt gut beherrschte und sehr liebte, rtb), der Nibelungen sagen mag, so fehlt immer gerade das eine, in dem der ganze Zauber des Griechischen liegt, was man mit keinem Worte ganz aussprechen kann, aber was man tief und unendlich fühlt, was machen würde, daß in jeder ernsthaftesten und heitersten, glücklichsten und wehmütigsten Katastrophe des Lebens, ja im Momente des Todes einige Verse des Homer, und ich möchte sagen, wenn sie aus dem Schiffskatalogus wären, mir mehr das Gefühl des Überschwankens der Menschheit in die Gottheit (was doch die Summe alles menschlichen Fühlens und alles irdischen Trostes ist) geben würde, als irgend etwas von einem andern Volk."

Die Griechen waren dem Ideal der Menschenbildung am nächsten gekommen, nicht die Römer mit ihrer Richtung auf Staat und Herrschaft und ihrem Hang zur Unterdrückung der Individualität, nicht die Kirche mit ihrem Hang zur Unterdrückung der Sinnlichkeit und nicht die moderne Welt mit ihrer Richtung auf die mechanischen Künste und den äußeren Nutzen. Allein das griechische Volk zeigte jene volle, freie und schön entwickelte Menschlichkeit. Die hellenistische Kultur war eine Singularität in der Menschheitsgeschichte; so haben alle großen Kulturvölker schöne Lyrik hervorgebracht, aber die Tragödie gab es nur in Athen, wo sie als machtvolles Instrument zur Erziehung der gesamten Bevölkerung diente.

Die Sprache spiegelt als Organ des Geistes diese Idealität, diese Mannigfaltigkeit wider. Wer das Griechische, die "Muttersprache der Musen" beherrschen lernt, dringt tief in den hellenistischen Geist ein. Dabei geht es nicht um Imitation, sondern um schöpferische Nachfolge. Das Studium des Altgriechischen war keine weltabgewandte Gelehrsamkeit, sondern ein Mittel, an das goldene Zeitalter der Menschheit anzuknüpfen. Dabei idealisieren wir auch das Altertum, darüber war sich Humboldt im klaren, doch darum ging es nicht. Dieses Bild antiker Vollkommenheit sollte dem modernen Menschen als Richtschnur dienen, als Bild, an dem er sich wieder aufrichten, nach dem er streben konnte.

Hier konnte der moderne Mensch, dessen Geschmack durch allerlei Künstlichkeit wie z.B. die überschwengliche Süße des Barock auf der einen und seelenlose Rationalität durch die Aufklärung auf der anderen Seite zerrissen war, wieder zur inneren Einheit finden. Einheit bedeutet für Humboldt immer Übereinstimmung von Vernunft und Sinnlichkeit, ganz in dem Sinne, wie Friedrich Schiller dieses Thema in seinen "Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen" behandelt. Die Sinnlichkeit ist zugleich Keim und lebendiger Ausdruck alles Geistigen. Wie Schiller in seinem großen Gedicht "Das Ideal und das Leben" stellt Humboldt dem Leben das Ideal der Kunst entgegen, und zwar einer Kunst, die noch nicht -- wie im späteren 19. Jahrhundert -- zum reinen Abbild des Lebens geworden war. In den Gedichten und den Tragödien Goethes und Schillers lebte dieses goldene Zeitalter der Menschheit weiter, Ideale, die Humboldt in konkrete Bildungspolitik umsetzte. Durch ihn wurde Bildung, die sich am Leitbild des griechischen Menschen orientierte, formgebend für die geistige Elite und weit darüber hinaus.

Diese Übereinstimmung war kein Zufall. Humboldt war im Frühjahr 1794 mit seiner jungen Frau nach Jena gezogen, um Schiller

nahe zu sein. Er brachte die Abende grundsätzlich bei Schiller zu, und die beiden führten ausgiebige Diskurse über die Theorie der ästhetischen Erziehung, die Schiller gerade "in einer Reihe von Briefen" entwickelte und niederschrieb. Immer öfter schloß sich Goethe diesen Diskussionen an, hin und wieder kam Wilhelms Bruder Alexander von Bayreuth herüber. Wilhelms profunde Kenntnisse über die Griechen haben zweifellos Schillers und auch Goethes Verständnis über die Bedeutung der Antike vertieft. Der Bildungswert des Schönen, den man genauer fassen wollte, wurde bei den Hellenen herrlich demonstriert. Humboldt nannte die Jahre der Gemeinschaft mit Schiller "das Bildungserlebnis meines Lebens".

 

Das Nützlichkeitsdenken der Aufklärung

Humboldts Bildungsidee, besonders seine Betonung des Griechischunterrichts in der Schule, ist geradezu zum Inbegriff von "Luxuswissen" geworden, von "Bildungsballast", den unsere Kinder angeblich nicht mehr brauchen. Griechisch lernen? Nicht einmal mehr Latein will man aufrechterhalten, das kleine Latinum soll für die meisten Studiengänge entfallen. Und dann Griechisch! Unser Bundesbildungsminister würde einen Herzanfall bekommen. Schließlich gehe es darum, die Dauer des Schulunterrichts zu kürzen, deshalb müßten überflüssige Lerninhalte entfallen, hören wir ihn sagen. Das sei genau das antiquierte Elitewissen, auf das in der Schule immer noch viel zu viel Zeit verschwendet werde, Zeit, die den Kindern später, wenn sie im Wettbewerb mit anderen stehen müßten, fehlen wird.

Genau diese Sicht der Dinge ist die Ursache für unsere Bildungsmisere. Genau diese Art des kurzfristigen Nützlichkeitsdenkens hat die Bildung zerstört. Humboldt war mit eben dieser Frage heftig konfrontiert. Preußen war im Krieg von 1806 gänzlich verheert worden, und Napoleon hatte als Sieger dem Land vernichtende Friedensbedingungen aufgenötigt. Im Frieden von Tilsit (1807) verlor Preußen alle westelbischen Gebiete sowie die territorialen Zugewinne aus den polnischen Teilungen. Restpreußen wurde von französischen Truppen besetzt, die Quartier und Verpflegung, Hand- und Spanndienste forderten und jeden drangsalierten. Napoleon stellte zusätzlich astronomische Kontributionsforderungen an den vernichteten Staat, der binnen zweier Jahre 1,4 Milliarden Franken an Geldabgaben, Sachlieferungen und Arbeitsleistungen aufbringen mußte; das entsprach dem Sechzehnfachen des Jahreseinkommens des Preußischen Staates. Jede Ausgabe, die nicht dem nackten Bedürfnis galt, mußte als ungeheurer Luxus erscheinen.

In dieser Situation sagte Humboldt jeglicher praxisorientierten Ausbildung den Kampf an. Da ordnete er an, daß die Kinder sich stundenlang mit Altgriechisch beschäftigten, als ob es nicht Wichtigeres zu tun gäbe. Da krempelte er das Bildungswesen nach weltfremden, idealen Grundsätzen um, wo allgemeine Not herrschte und das gesamte Staatswesen sich in Auflösung befand. Da wurden neue Institutionen geschaffen, wo doch die existierenden kaum noch staatliche Zuschüsse erhielten. Da wollte er geistiges Leben pflanzen, wo die Unterdrückung der feindlichen Armee jede Regung sofort niedertrat. Die Schimäre eines Phantasten, eine ungeheuere Provokation, würden wir heute zu solchen Plänen sagen.

Schon vom Stein hatte seinen Aufbau des neuen Staates auf eine sittliche Grundlage gestellt und die ganze Hoffnung auf die Jugendausbildung gesetzt. Auch Wilhelm wollte den erniedrigten Staat mit einer bloßen Idee, mit einer idealen Vorstellung wieder aufrichten. Alles andere hatte Preußen verwirkt: Die Armee war geschlagen, die Bevölkerung verarmt, die Felder verheert, der Staat in Auflösung. Preußen hatte nichts mehr an materiellen Gütern, es besaß nur noch die geistigen Kräfte der Bevölkerung, und die galt es zu mobilisieren.

"Wenn ein Staat wie der preußische unglücklicherweise in eine von seiner bisherigen sehr verschiedene Lage versetzt wird, so scheint es nur notwendig, daß er wieder auf irgendeine Art die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und sich von irgend einer Seite noch mehr auszuzeichnen bemühe. Beförderung von Aufklärung und Wissenschaft hat ihm immer Achtung erworben; es wird ihm leicht sein, diese zu vermehren, die Stimme des Auslandes zu gewinnen und auf eine politisch durchaus harmlose Weise eine moralische Macht in Deutschland zu erlangen, die in vielerlei Beziehungen ungemein wichtig werden kann," schrieb Humboldt an Staatskanzler Hardenberg in dem Bemühen, ihn für seine Pläne zu gewinnen. Preußen sollte sich um Bildung und Wissenschaft verdient machen, sollte geistig wiedererstarken und sich so den Respekt des Auslandes, der auf dem Schlachtfeld von Jena und Auerstedt geblieben war, verschaffen. Die äußere Machtstellung war verloren, desto wichtiger war es, den Staat im Innern wieder aufzurichten.

Konzentration auf die geistigen und sittlichen Kräfte des Volkes hieß die einzige Devise, mit der Preußen wieder zu einer europäischen Macht werden konnte. Dem stand nicht nur die verheerende Not des gesamten Landes, sondern im damaligen Zeitgeist eine viel wichtigere Macht entgegen, deren Widerstand es zu brechen galt: die sogenannte Aufklärung. Im Zuge der Aufklärung hatte der Nützlichkeitsgedanke in allen Gebieten großen Einfluß gewonnen. Alles wurde nur an diesem Maßstab bewertet, und was nach diesem Maßstab keinen Wert hatte, wurde verworfen. Gott brachte keinen Nutzen, also wurde er aus der Welt verbannt; die alten Sprachen brachten keinen Nutzen, also mußten sie aus dem Unterricht verschwinden.

Der britische Aufklärer John Locke warnte ausdrücklich vor schönen, aber unnützen Dingen wie der Poesie und der Musik. In seinen "Gedanken über Erziehung" riet er Eltern, den Hang zur Poesie "wo er sich bei einem Knaben findet, vielmehr als ihn zu ermuntern zu unterdrücken; denn sie wird ihm andere Geschäfte zum Ekel machen und in allerlei Gesellschaft führen, wo er nicht nur seine Zeit, sondern auch wohl sein Vermögen verschwendet." Neben den schönen Künsten war ihnen besonders das Griechische verhaßt. Als die Königin Christine von Schweden sich Unterricht im Griechischen geben ließ, bemerkte Descartes: "Ich bin erstaunt, daß Eure Majestät an diesen Sächelchen Gefallen findet; ich bin als kleiner Knabe in der Schule auch damit vollgestopft worden, aber seitdem ich zu meinen vernünftigen Jahren gekommen bin, habe ich glücklicherweise das alles vergessen." Griechisch oder Latein zu verstehen, sei für einen gebildeten Menschen nicht wichtiger als Schweizerdeutsch oder Niederbretonisch, und die Geschichte des deutschen oder römischen Reiches gehe ihn nicht mehr an als die des kleinsten Ländchens in Europa.

Man brauche die Kenntnis der Geschichte ebensowenig wie die der alten Sprachen. Griechisch sollte nur noch für Theologen Pflicht sein, und selbst die alte Gelehrtensprache Latein wurde zurückgedrängt und sollte aus den Schulen ganz und aus den Universitäten so weit wie möglich verschwinden. An die Stelle des Griechischen setzten die Aufklärer den Unterricht in der galanten Hofsprache Französisch. Statt dessen erhielten die Naturwissenschaften eine wesentliche Bedeutung; besonders Mathematik und Philosophie sollten eine zentrale Stellung im Schulunterricht einnehmen. Moderne Wissenschaft und Philosophie sollten den Menschen von der alten überlieferten Kultur lösen.

Die Schule der Aufklärung hatte sich einem konsequenten Utilitarismus verschrieben, und sie entsprach damit den Wünschen des Staates. Die Monarchie brauchte Untertanen, keine denkenden Bürger, und der aufkeimende Merkantilismus brauchte Arbeiter, keine "spinnerten Poeten". Außerdem schadete zuviel Bildung dem Gehorsam. "Auf dem platten Lande ist es genug, wenn sie ein bißchen lesen und schreiben lernen," lautete die Maxime Friedrichs des Großen, "wissen sie aber zuviel, so laufen sie in die Städte und wollen Sekretärs und sowas werden." Humboldt ging gegen diesen Standpunkt mit aller Schärfe vor.

 

Die Schulreform

Das Schulwesen, das Humboldt vorfand, war zersplittert in verschiedenste Schularten und -träger. Bis zu vom Stein waren die Schulen im wesentlichen Gemeindeanstalten, also öffentlich, doch es gab auch zahlreiche Privatschulen. Die Verwaltung und Aufsicht lag in den Händen der Geistlichen aller Konfessionen. Fest angestellte Lehrer waren selten, junge Geistliche, die auf eine Pfarre oder ein geistliches Amt warteten, bildeten das Gros des Lehrkörpers. Die Lehrerstelle wurde nur als Provisorium, als Übergangslösung betrachtet, und entsprechend war in der Regel der Unterricht. In den Elementar- und Bürgerschulen unterrichteten neben den Geistlichen auch Handwerker.

Neben den Elementar- und Bürgerschulen gab es in den Städten noch die alte Lateinschule. Hier war das alte Ideal der enzyklopädischen Bildung des 17. und 18. Jahrhunderts, das umfassende Bildung als Anhäufung von Daten, Fakten und Regeln betrachtete, immer noch vorherrschend. Hier herrschte die berüchtigte "Latinitätsdressur" vor: Im Mittelpunkt des Unterrichts stand die lateinische Eloquenz, die durch ausgedehnten grammatischen Unterricht und beständige Übung im Lateinschreiben eingetrichtert wurde. Die alten Schriftsteller wurden nur der alten Sprache wegen gelesen, nicht um ihren Ideen nachzuspüren. Der Schüler wurde mit Formeln und Phrasen, mit Sentenzen und Bildern überhäuft, um daraus lateinische Reden und Gedichte anzufertigen. Die Imitation war Maß und Ziel des gesamten Unterrichts. Der Schriftsteller Friedrich Nicolai (geboren 1733) schrieb über seine Schulzeit: "Ich lernte nichts als lateinische und griechische Wörter, wunderbar zusammengeknetet in alle Prädikamente einer pedantischen Grammatik. Es ward dekliniert, konjugiert, exponiert, analysiert, phraseologisiert und wer weiß was mehr." Und Herder beschwerte sich häufig, daß man den Schülern die alten Sprachen als Formalitäten beibringe, ohne ihnen "die lebendige Welt ihrer Gedanken" zu erschließen.

Humboldt machte damit ein Ende. An die Stelle des Auswendiglernens von Regeln trat Bildung, und zwar die Entfaltung der gesamten Persönlichkeit, nicht nur des Verstandes. Nicht Tauglichkeit zu diesem oder jenem Endzweck, nicht das Erlernen von Kenntnissen oder Fertigkeiten galt ihm als Inhalt wahrer Bildung, sondern den Menschen als solchen in der Fülle seiner Kräfte wollte er herausbilden.

Er lehnte die Spezialschulen, welche die Berufsvorbildung vor die allgemeine Bildung stellten, radikal ab. "Alle Schulen ... müssen nur allgemeine Menschenbildung bezwecken. -- Was das Bedürfnis des Lebens oder eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, muß abgesondert, und nach vollendetem allgemeinen Unterricht erworben werden. Wird beides vermischt, so wird die Bildung unrein, und man erhält weder vollständige Menschen noch vollständige Bürger einzelner Klassen", betonte er im Litauischen Schulplan. Es wurde weder der Mensch umfassend gebildet noch der künftige Beruf richtig vorbereitet, meinte Humboldt und bezeichnete deshalb diese Verknüpfung als "Mißgeburt".

Natürlich gab es im wirklichen Leben Unterschiede der Begabung, des Berufes, des Besitzes; die Schulform mußte also gegliedert werden. Die einzige Gliederung des Unterrichts, die Humboldt akzeptierte, war die nach der zeitlichen Dauer. Schüler, die nicht die Schule bis zum Abitur besuchen konnten oder wollten, schieden früher aus dem Unterricht aus; er mußte also so gegliedert sein, daß der Schüler die Schule jederzeit verlassen konnte, ohne daß seine Bildung Lücken oder Mängel aufwies; der Unterricht konnte nur nicht so vollständig sein. Der Schulunterricht mußte für alle Schüler einheitlich und kontinuierlich sein.

Humboldt unterschied drei Entwicklungsstufen des Kindes: Elementarunterricht, Schulunterricht und Universitätsunterricht. Folglich durfte es nur drei Schularten geben, wobei jede dem gegebenen Lernstadium des Schülers entsprach, nämlich Elementarschule, Gelehrtenschule und Universität. "So wie es nun bloß diese drei Stadien des Unterrichts gibt, jedes derselben aber unzertrennt ein Ganzes macht, so kann es auch nur drei Gattungen auf einander folgender Anstalten geben, und ihre Grenzen müssen mit den Grenzen dieser Stadien zusammenfallen, nicht dieselben in der Mitte zerschneiden." Es durfte nur diese drei Schulformen geben, und sie mußten klar geschieden sein.

 

Der Elementarunterricht

Diese erste Stufe sollte den Unterricht überhaupt erst möglich machen.

"Der Elementarunterricht soll bloß in Stand setzen, Gedanken zu vernehmen, auszusagen, zu fixieren, fixiert zu entziffern, und nur die Schwierigkeit überwinden, welche die Bezeichnung in allen ihren Hauptarten entgegenstellt. Er ist noch nicht sowohl Unterricht, als er zum Unterricht vorbereitet, und ihn erst möglich macht. Er hat es eigentlich nur mit Sprach-, Zahl, Maßverhältnissen zu tun, und bleibt, da ihm die Art des Bezeichneten gleichgültig ist, bei der Muttersprache stehen. Wenn man, und mit Recht, noch andern Unterricht, geographischen, geschichtlichen, naturhistorischen hinzufügt, so geschieht es teils um die durch den Elementarunterricht entwickelten, und zu ihm selbst nötigen Kräfte durch mannigfaltigere Anwendung mehr zu üben, teils weil man für diejenigen, welche aus diesen Schulen unmittelbar ins Leben übergehen, den bloßen Elementarunterricht überschreiten muß."

In einem Bericht über die Arbeit seiner Sektion erklärte Wilhelm dem König die neue Unterrichtsmethode: "Dies macht den Unterschied, daß man bei der bisherigen Methode nur kurz und oft ohne Anführung selbst der unmittelbarsten Gründe die Art angibt, wie z.B. diese oder jene Rechnung gemacht werden soll, bei der neuen hingegen das Kind übt, Zahlenverhältnisse überhaupt, durch welche hernach fast alle Rechnungen möglich sind, schnell und sicher aufzusuchen. Bei jener Methode hat der Schüler also nur die wirklich erlernte Rechnung inne, kann sich, wenn ein etwas veränderter Fall kommt, nicht mehr helfen und vergißt ohne Übung auch das Erlernte, hat überdies, ohne daß sein Verstand weiter an Kraft gewonnen hat, nur eine einzelne Fertigkeit erlangt. Der Schüler der neuen Lehrart hingegen weiß sich überall zu helfen und kann nie vergessen, weil er nichts eigentlich auswendig gelernt, sondern die Kraft erlangt hat, die wirklichen Zahlenverhältnisse einzusehen."

An die Stelle des Auswendiglernens rückt das Begreifen. Hat der Schüler einmal an einem Gegenstand kreative Einsicht in einen Sachverhalt erhalten, kann er dieses Verständnis auch auf andere Problemfelder übertragen. Es komme nur darauf an, sagt Humboldt, "daß jedes Vermögen, das man in sich spürt, einmal einen Gegenstand in sich gefunden hat, in dem es ganz aufgegangen ist, wo nun jede neue Beschäftigung gleichsam nur eine Wiederholung sein würde."

Die Elementarschulen müßten so vorzüglich sein, daß sie auch allein ohne Nachteil besucht werden könnten, fordert Humboldt. Deshalb müsse er bereits alles in sich fassen, "wovon die Klarheit und Bestimmtheit der Begriffe abhängt, worauf, wie auf einem Fundament, die höchste Mathematik ruht, und was die Einbildungskraft zu den beiden Hauptgattungen der Kunst, der bildenden und musikalischen, anregt, und daß dies alles auf eine die Empfindung stark bewegende Weise behandelt wird, so dürfte man gewiß in Versuchung geraten, diese Erziehung der auf manchen unsrer jetzt berühmten Gymnasien vorzuziehen."

Wilhelm betonte immer wieder, wie notwendig es sei, den Unterricht der verschiedenen Schularten klar zu unterscheiden, denn die Elementar- und die Gelehrtenschulen unterwiesen Kinder in ganz unterschiedlichen Entwicklungsstadien. Deshalb durften die unteren Klassen der Gelehrtenschulen, die man auch die Bürgerklassen nannte, nicht einzelne Elemente des Elementarunterrichts aufnehmen. "Nehmen sie diesen auch nur einigermaßen mit auf, so werden die eigentlichen Elementarschulen bald als Volksschulen im verächtlichen Sinne des Worts angesehen, was ihrer Verbesserung sehr nachteilig ist. Folgen diese gut organisierten untern Klassen auf gute Elementarschulen, so läßt sich für sehr viele Zwecke des Lebens der Unterricht sehr gut bei ihnen beschließen." Hätten wir uns an dieses Prinzip gehalten, wären unsere Hauptschulen in den letzten drei Jahrzehnten nicht so abgesunken.

Durch den verbesserten Unterricht an den öffentlichen Schulen waren die höheren Stände gezwungen, ebenfalls diese Schulen zu besuchen, ein Ergebnis, auf das Humboldt zielstrebig hinarbeitete. Er haßte die ständische Erziehung, die künstliche soziale Schranken aufbaute und einen engen Kastengeist weckte. "Die niederen Stände bedürfen zu ihrer Bildung der höheren viel weniger, sie sind eigentlich selbständig ... In die höheren Stände bringt man aber das Volksmäßige nicht, wenn man nicht den Volksunterricht so anordnet, daß er eine allgemeine Grundlage wird, die niemand verschmähen kann, ohne sich selbst verachten zu müssen, und auf der nachher jedes andere aufgebaut werden kann. Es muß daher gar keinen doppelten, sondern nur einen in beschränkterem Raume stehen bleibenden und einen weitergehenden Unterricht für die Geringsten und Vornehmsten geben, und die Erziehung leidet kaum nur noch diesen Unterschied. Ebenso ist es da, wo in der Nation die zweite Trennung angeht, die des Gelehrten und die des Geschäftslebens," erklärte er seiner Frau. Indem er die Qualität des öffentlichen Unterrichts weit über das Niveau, das selbst ausgezeichnete Hauslehrer nicht in mehreren Fächern gewährleisten konnten, anhob, zwang er den Adel, seine Kinder zusammen mit den Bürgerlichen in die gleiche Schule zu schicken. Humboldt bedauerte tief, daß nicht jedes Kind die Universität besuchen konnte, wo es die "Süßigkeit der Wissenschaft" kosten konnte, daß er die Trennung der Gesellschaft in Gelehrte, die sich ganz der Wissenschaft widmen konnten, und andere, die ihren Lebensunterhalt außerhalb der Wissenschaften verdienen mußten, nicht aufheben konnte. Wenigstens in der Schule entfernte er diese Schranken, hier waren alle Kinder gleich.

 

Die Mittelschule

Die Mittelschule, die auch Bürger- oder Realschule genannt wurde, fand bei Humboldt keinen Raum, im Gegenteil er bekämpfte sie vehement. Hier hatten sich alle spezialistischen und utilitaristischen Tendenzen angesiedelt; Humboldt waren sie zu eng, zu eingleisig, und er verdächtigte sie des reinen Berufsdrills. Sie griffen dem Leben vor, sie unterrichteten alle Fächer, auch die Sprachen, rein mechanisch und führten nicht zur Bildung, sondern zur "Abrichtung". Im besten Falle würden sie die allgemeine Bildung mit dem Vermitteln spezieller Kenntnisse verbinden, ohne der ersteren den Vorrang zu geben.

Von der allgemeinen Linie: zuerst breite allgemeine Bildung und dann das Vermitteln von Fachwissen, wichen Mittelschulen notwendigerweise entweder durch den Lehrplan oder durch die Methode ab. "Will man das erste, so verwechselt man auf eine klägliche Weise Bildung und Übung des Geistes mit dem Einsammeln nützlicher Kenntnisse; will man das zweite, so läuft man Gefahr, die Einsicht durch Abrichtung zu ersetzen." Natürlich hatte Wilhelm nichts gegen "nützliche Kenntnisse", doch zuerst mußte das Denken entwickelt, mußte ein Fundament der allgemeinen Bildung für alle späteren Berufsarten geschaffen werden, dann folgte der Unterricht in speziellen Fachkenntnissen.

Außerdem witterte er hier den alten Ständegeist. "Man hat überdies in beider Hinsicht bei ihnen eine doppelte Klasse von Menschen im Auge, einmal die ärmere, die darum höherer Bildung entsagen muß, dann diejenige, welche sich nicht dem Universitätsstudium widmet. Allein beide lassen sich nach gleichen Grundsätzen beurteilen." Es gab sozial unterschiedliche Stellungen, die Gesellschaft war immer noch in Ständen gegliedert, und Humboldt rief nicht zu deren Sturz auf, aber er ignorierte sie vollkommen in seiner Bildungspolitik. Spezielle Schulen für den Adel lehnte er ebenso ab wie die armseligen Volks- oder Bauernschulen, und die Ritterschulen öffnete er der Allgemeinheit. Für ihn gab es nur eine Klasse von Menschen, daher mußten alle nach den gleichen Grundsätzen gebildet und behandelt werden.

Immer wieder betonte er diesen Punkt, und hier liegt der Grund, warum er die Spezialschulen mit einer Vehemenz bekämpfte, die seinem Wesen sonst fremd war. Noch einmal formulierte er den allgemeinen Grundsatz: "Die Übung der Kräfte auf jeder Gattung von Schulen allemal vollständig vorzunehmen, alle Kenntnisse aber, die sie überhaupt wenig oder zu einseitig befördern, wie notwendig sie auch sein mögen, vom Schulunterricht auszuschließen, und dem Leben die speziellen Schulen vorzubehalten." Keine Erziehung zur bürgerlichen Nützlichkeit und Brauchbarkeit, das fand der Mensch, sobald er in das Berufsleben eintrat, sowieso, sondern Bildung zum ganzen Menschen, lautete seine Herangehensweise.

Genausowenig dürfe sich die Unterrichtsmethode in den verschiedenen Schultypen unterscheiden. Der Unterschied lag nur in der Dauer der Ausbildung, die natürlich auf der Gelehrtenschule länger war. "Allein auch da läßt sich bei den Fundamenten nichts tun, nicht abkürzen, denn man bestimmt ja in jeder Disziplin die Menge des aufzunehmenden Stoffs im Verhältnis zu der Kraft, die er üben, und die ihn verarbeiten soll; nicht übereilen, denn die Entwicklung erfordert ihre natürliche Weile. Das einzige, was hier geschehen könnte, wäre wieder dem Leben vorgreifen; man könnte nämlich, was in der gelehrten Schule nach Gründen gezeigt wird, in der Mittelschule mechanisch beibringen, z.B. chemische Mischungen, Rechnungsformeln, usf. Allein dies hieße durchaus die Grenzen des Schulunterrichts verlassen, die zur Bildung bestimmte Zeit zur Abrichtung mißbrauchen und die Köpfe verderben."

Die Vorbereitung auf das Leben und den Beruf in Spezialschulen durfte erst auf die allgemeine Schulbildung folgen. Hatte der junge Mensch sich entschieden, ins Berufsleben einzutreten, dann stellte sich die Sachlage ganz anders da. Nun mußte es Spezialschulen geben, auf denen der Auszubildende alles, was er an mechanischen Fertigkeiten und Spezialwissen brauchte, beigebracht bekam. Humboldt forderte, daß "es viele Spezialschulen gebe und kein bedeutendes Gewerbe des bürgerlichen Lebens eine entbehre". Explizit erwähnte er Handwerkerschulen (auch Kunstschulen genannt), Ackerbau-, Handels- und Steuermannschulen und Lehrstätten für nichtwissenschaftliche Ärzte. Auf sie gehörten Fächer wie Technologie, Chemie, Statistik und andere, die man den Bürgerschulen zu Unrecht aufgebürdet habe. Er gründete selbst eine landwirtschaftliche Fachschule, die er auf der bisherigen Liegnitzer Ritterakademie ansiedelte.

 

Die Gelehrtenschule

Auf der Elementarschule wurde Elementarunterricht, auf der Gelehrtenschule Schulunterricht erteilt. "Der Zweck des Schulunterrichts ist die Übung von Fähigkeiten und die Erwerbung der Kenntnisse, ohne welche wissenschaftliche Einsicht und Kunstfertigkeit unmöglich ist," heißt es kurz und knapp. Der Schüler "ist also auf doppelte Weise, einmal mit dem Lernen selbst, dann mit dem Lernen des Lernens beschäftigt. Aber alle seine Funktionen sind nur relativ, immer einem Höheren untergeordnet, nur Sammeln, Vergleichen, Ordnen, Prüfen usf." Das höhere Ziel war die Bildung eines schönen Charakters, die Entwicklung einer individuellen Persönlichkeit.

Der Sprachunterricht nahm eine zentrale Funktion ein. "Die Sprache ist Abdruck des Geistes und Ausdruck einer eigentümlichen Weltansicht, daß ihre Erlernung, auch wenn sie noch so früh abgebrochen wird, den höchsten Nutzen gewährt, ja selbst dann, wenn der Schüler gar nicht bis zur Literatur und Altertumskenntnis durchdringt." Sprache ist ganz Geist und ganz Sinnlichkeit, sie ist die sinnliche Darstellung einer geistigen Struktur und ihr Studium deshalb immer fruchtbar für das Denken. Sie hellt den Geist auf, schult das Gedächtnis, übt die Phantasie und ist deshalb auch unvollendet nützlich.

Ziel des Sprachunterrichts war die Kenntnis vom Sprachbau überhaupt. Die Sprache müsse als Form sichtbar gemacht werden, und dies gelinge besser an einer "toten, schon durch ihre Fremdheit frappierenden" Sprache. Die größeren Schwierigkeiten und Mühen, die auftauchten, eine alte Sprache, die in eine ganz fremde Welt von Ideen und Begriffen einführt, zu erlernen, würden am Ende reichlich belohnt werden. Der Sprachunterricht müsse aber "wirklicher Sprachunterricht, und nicht, wie jetzt so oft, eine mit Altertums- und historischen Kenntnissen verbrämte und hauptsächlich auf Übung gestützte Anleitung zum Verständnis klassischer Schriftsteller" sein, forderte Humboldt. Der Schüler sollte nicht grammatische Regeln stur auswendiglernen, sondern entdecken, wie der Gedanke in der jeweiligen Grammatik gegliedert und ausgedrückt wird. Dann hatte er nicht nur die grammatische Struktur erkannt, sondern gleichzeitig einen bedeutenden Schritt in seinem eigenen Denken vollzogen. Der Endzweck des Sprachstudiums war "Kenntnis der Menschheit im Altertum". Wilhelm war überzeugt, daß "diese Kenntnis, neben anderem Nutzen, den sie stiftet, auch ganz besonders zur Bildung des schönen menschlichen Charakters beiträgt".

Der Schüler hatte den Reifegrad im Sprachunterricht erreicht, wenn er mit den üblichen Hilfsmitteln jeden Schriftsteller, "soweit er wirklich verständlich ist", verstand, um "sich in jede gegebene Sprache, nach seiner allgemeinen Kenntnis vom Sprachbau überhaupt, leicht und schnell hineinzustudieren." Mit Griechisch und Latein hatte er zwei Sprachen, die mit ihrem Formenreichtum und ihrer komplexen Ausdrucksweise die meisten anderen Sprachen einschlossen, in der Tiefe studiert und gleichzeitig seine eigene Muttersprache besser beherrschen und schätzen gelernt. Auf diesem Fundament konnte der junge Mensch nun jede beliebige Sprache leicht und schnell lernen. Hätte er sich die Zeit für dieses "Luxusstudium", wie Bildungsminister Rüttgers meint, nicht genommen, hätte er gleich mit Englisch und Französisch begonnen, hätte er dieses Fundament nicht, müßte er jede Sprache, die er studieren möchte, mühsam von Grund auf neu lernen. Ein schlechter Handel, den uns die Bildungspolitiker da anbieten.

Unter Humboldt büßte das Latein seine zentrale Stellung zugunsten des Griechischen ein, denn Griechisch, nicht Latein, war für ihn das Mittel, geistige Kräfte zu entfalten und zu schulen. Das bedeutete mehr, als den Schwerpunkt des Unterrichts von einer alten Sprache auf eine andere zu verlagern, es bedeutete einen anderen, einen freien, schöpferischen Geist in den Schulen einziehen zu lassen. Die Römer waren nicht als Ideal für wahres Menschentum, das Wilhelm befördern wollte, geeignet. "Das Gefühl für das Altertum ist also der Prüfstein der modernen Nationen, die schon auf Irrwegen sind, wenn sie Römer und Griechen gleich, oder gar im umgekehrten Verhältnis schätzen. Insofern antik idealisch heißt, nehmen die Römer nur insofern daran teil, als es unmöglich ist, sie von den Griechen zu sondern", schrieb er. Die Römer taugten nur in so weit zum Ideal, wie sie selbst von den Griechen beeinflußt waren und ihnen nacheiferten.

Neben den alten Sprachen sollte "der historische und mathematische Unterricht gleich gut und sorgfältig mit dem philologischen behandelt werden". Die Naturwissenschaften, insbesondere die Mathematik erfuhren eine große Aufwertung, indem sie nach der gleichen Methode wie die Philologie als Wissenschaften gelehrt wurden. Hauptfächer waren Griechisch, Latein, Deutsch und Mathematik. Bei seinem ältestem Sohn Theodor überwog entschieden die Neigung zur Mathematik, und Wilhelm hinderte diese Neigung nicht. Doch er bestand auf dem Unterricht in den alten Sprachen, "weil eine Bildung immer einseitig bleibt, wenn gerade die Sprachform darin nicht hauptsächlich mit aufgenommen wird. Noch mehr ist das bei entschiedener Anlage zur Mathematik notwendig. Geist und Gemüt gewinnen dabei unmittelbar zu wenig, und das ganze Feld der Gedanken, alles, was den Menschen zunächst und zuerst angeht, selbst da, worauf Schönheit und Kunst beruht, kommt nur in die Seele durch das Studium der Sprache, aus der Quelle aller Gedanken und Empfindungen. Sie bleibt immer der Gegenstand, bei dem es am leichtesten wird, in sich selbst zurückzugehen, die Welt nur zu lieben, weil man das Gemüt daran erkennt, und Sehnsucht zu empfangen nach dem Höchsten, was nie als in der tiefen Einsamkeit des Geistes erscheint. Wem das fehlt, der bleibt doch immer nur halb würdig und nur halb glücklich," schrieb er an seine Frau Li im Oktober 1809.

Wie recht er mit seinem Beharren auf den philologischen Unterricht hatte, bewiesen die kommenden Jahrzehnte, die eine große Fülle von hochbegabten Naturwissenschaftlern und Erfinder hervorbrachten. Im Lehrplan des weltberühmten Mathematikers Bernhard Riemann (1826-1866) z.B. waren von 34 Stunden Unterricht in der Woche 24 Stunden der Philologie und nur 2 den eigentlichen Naturwissenschaften gewidmet. Im einzelnen hatte er wöchentlich 8 Stunden Griechisch, 6 Stunden Latein, 2 Stunden Hebräisch oder Sanskrit, 3 Stunden Deutsch, 3 Stunden Französisch, 2 Stunden Englisch, 2 Stunden Naturwissenschaften, 2 Stunden Singen und 2 Stunden Zeichnen. Mit diesem Unterricht war "das ganze Feld der Gedanken" entwickelt und die Grundlage für Riemanns künftige Beiträge gelegt worden, mit denen in der Geschichte der Mathematik ein völlig neues Kapitel begann.

Bei aller Universalität des Unterrichts, die Humboldt forderte, achtete er die Individualität der Persönlichkeit hoch. Der Schüler konnte in den oberen Klassen zwischen den drei didaktischen Hauptrichtungen Schwerpunkte bilden: "Eine Verschiedenheit der intellektuellen Richtung auf Sprachstudien, Mathematik und Erfahrungskenntnisse ist einmal unleugbar vorhanden, und es wäre ebenso wunderbar, nur eine zu begünstigen, als sie in verschiedene Anstalten verweisend, sie noch mehr spalten zu wollen." So konnte der fortgeschrittene Schüler mit der Zustimmung seiner Eltern z.B. eine der beiden alten Sprachen fallenlassen, die andere mußte er bis zum Abitur weiterführen. Der Lehrer sollte erkennen, wo die jeweilige Begabung seines Schützlings lag und darauf achten, daß der Schüler die richtigen Schwerpunkte setzte und seine Allgemeinbildung nicht vernachlässigt wurde.

Hat der Elementarunterricht den Lehrer erst möglich gemacht, so sollte der Schulunterricht ihn entbehrlich machen. "Der Schulunterricht führt den Schüler nun in Mathematik, Sprach- und Geschichtskenntnis bis zu dem Punkte, wo es unnütz sein würde, ihn noch ferner an einen Lehrer und eigentlichen Unterricht zu binden, er macht ihn nach und nach vom Lehrer frei, bringt ihm aber alles bei, was ein Lehrer beibringen kann." Nun, nach abgeschlossener Schulbildung, konnte sich der junge Mensch jeder Art von Studien zuwenden, die ganze Berufswelt stand ihm weit offen. Er besaß die Werkzeuge für wissenschaftliche Arbeit, überall fand er sich zu Hause. "Er weiß, was er weiß", das Fundament seiner Bildung war so solide und breit gebaut, daß er sich jede konkrete Fertigkeit, die das Leben von ihm forderte, nun leicht und schnell aneignen konnte.

 

Die Idee der Einheitsschule

Humboldt duldete keine nebeneinander stehenden Schulformen, die Schule war Einheitsschule. Sie gliederte sich in Elementarschule, Gelehrtenschule, Universität. Die eine Schulart baute auf der anderen auf, es gab keine Querverbindungen zwischen ihnen. In einer Verfügung vom 14. Mai 1810 wurden Elementarschulen und Gelehrtenschulen als die beiden Grundtypen festgeschrieben. In Gemeinden, die für eine Gelehrtenschule zu klein waren, richtete er eine höhere Elementarschule ein, "in welcher die nur zu einer gewissen Stärke gediehenen sittlichen, intellektuellen und ästhetischen Kräfte an den einer jeden korrespondierenden bestimmten Gegenständen der Natur- und der Menschenwelt zu dem Grad entwickelt und fortgebildet werden, auf welchem jeder zur Mündigkeit gelangte Mensch stehen muß, um seiner selbst und seiner Beziehung zu der Gottheit und zu der Welt inne, seiner Anlagen und ihres Maßes sich bewußt und ihrer mächtig zu sein".

Außerdem schuf er Gelehrtenschulen, die nur bis zur Tertia reichten, also nach dem fünften Gymnasialschuljahr abbrachen. Sie sollten dort eingerichtet werden, wo man keine fertigen Gelehrtenschulen einrichten konnte, aber doch mehr als Elementarschulen brauchte. Sie stellten einen verkürzten Gymnasialkurs dar. Wie die höheren Elementarschulen trugen auch sie keinen eigenen Charakter, sondern entsprachen im wesentlichen ganz den Unterklassen der Gelehrtenschulen und wurden "Höhere Stadtschulen", später Bürgerschulen genannt. "Diese sind so auszugestalten, daß er (der Unterricht) auch denen auf jeder Stufe wirkliche Geistesbildung bietet, die ihn in der Mitte abzubrechen genötigt sind."

Mit der Einheitsschule beendete Wilhelm die alte soziale Gestaltung des Bildungswesens nach Ständen. Sie war ihm die Garantie, "daß die Spuren des ehemaligen Vorurteils, daß eine adlige Erziehung von einer andern verschieden sein müsse, ...vertilgt" werde. "Die Organisation der Schule bekümmert sich daher um keine Kaste, kein einzelnes Gewerbe, allein auch nicht um die gelehrte -- ein Fehler der vorigen Zeit", sie sah in jedem Schüler nur den heranwachsenden Menschen und nicht den künftigen Berufstätigen oder Staatsbürger. "Dieser gesamte Unterricht kennt daher auch nur ein und dasselbe Fundament. Denn der gemeinste Tagelöhner und der am feinsten Ausgebildete muß in seinem Gemüt ursprünglich gleich gestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschenwürde roh, und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental, chimärisch und verschroben werden soll." Der Mann, der heute als Inbegriff der elitären Erziehung gilt, hat in Wirklichkeit das Erziehungswesen sozialisiert, hat die Schulen allen Ständen geöffnet. Es ist unfaßbar, wie eine solche Mißdeutung zustande kommen und sich hartnäckig halten konnte.

Immer herrscht die reine Idee der Bildung vor, fern von jedem Nützlichkeitsgedanken und jeder willkürlichen sozialen Gliederung. Humboldt faßte den Geist seines Systems in den Worten zusammen: "Jeder, auch der Ärmste, erhielte eine vollständige Menschenbildung, jeder überhaupt eine vollständige nur da, wo sie noch zu weiterer Entwicklung fortschreiten könnte, verschieden begrenzte Bildung, jede intellektuelle Individualität fände ihr Recht und ihren Platz, keiner brauchte seine Bestimmung früher als in seiner allmählichen Entwicklung selbst zu suchen; die meisten endlich hätten, auch indem sie die Schule verließen, noch einen Übergang vom bloßen Unterricht zu der Ausführung in den Spezialanstalten."

Der Elementarunterricht dauerte vier Jahre, der höhere Elementarunterricht, der nicht nur Zahl-, Maß- und Sprachverhältnisse, Lesen und Schreiben, sondern auch die Anfangsgründe von Naturgeschichte, Geographie, Geschichte und Anthropologie lehren sollte, zwei Jahre länger. Auf den Gelehrtenschulen umfaßten die drei unteren Klassen, die ggf. die Höheren Stadtschulen bildeten, fünf, die oberen drei Jahre. Insgesamt erstreckte sich der Schulbesuch auf 12 Jahre.

Der Stundenplan des Schülers sollte maximal 36 Wochenstunden betragen, für den Lehrer nicht mehr als 24 und den Rektor höchstens 12. Der allgemeine Schulunterricht sollte bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres dauern. Jeder Lernschritt des Schülers wurde überprüft. Bei der Aufnahme in die Gelehrtenschule, bei der Versetzung in die nächsthöhere Klasse und der Entlassung von der Schule mußte der Schüler ein Examen ablegen. Die Schule hatte für jede Klasse einen Lektionsplan zu erstellen, der das Lernziel möglichst scharf bestimmen sollte.

 

Ein wissenschaftlich gebildeter Lehrerstand

Vor Humboldt waren die Lehrerstellen hauptsächlich mit jungen Theologen, die auf eine Pfarre warteten, besetzt worden. Nun reichte das Theologieexamen nicht mehr für eine Anstellung im Schuldienst aus. Er suchte ein "Sicherungsmittel gegen das Einschleichen mittelmäßiger oder schlechter Lehrer", und er mußte den Widerstand der Magistrate, die bisher über die Lehramtskandidaten entschieden hatten, den Mißbrauch, den sie seiner Überzeugung nach mit ihren überlieferten Rechten trieben, brechen. Beides gelang ihm, indem er eine allgemeine Lehrerprüfung einführte.

Am 12. Juli 1810 wurde das "Edikt wegen Prüfung der Kandidaten des höheren Schulamts" veröffentlicht, das den Anwärtern für den Schuldienst drei Prüfungen auferlegte: Die erste stellte den "Grad der Vollendung in der Wissenschaft" fest, der dem zu entsprechen hatte, was von einem Doktoranden an der Universität gefordert wurde. Die zweite berechtigte zum Unterricht in den unteren, und die dritte zum Unterricht in den oberen Klassen der Gelehrtenschule. Außerdem mußte der Lehramtsanwärter eine Probelektion ablegen. Gefordert wurden philologische, historische und mathematische Kenntnisse, doch der Kandidat konnte sich auch in anderen Fächern prüfen lassen, und er konnte Schwerpunkte unter den drei Hauptrichtungen setzen. Die drei wissenschaftlichen Deputationen, die Humboldt eingerichtet hatte, waren die Prüfungsverbände.

Es gab zwei Prüfungen, eine "formale" (im Humboldtschen Sinne) und eine "materiale" Prüfung. Die erste Prüfung galt den "Geisteskräften und Anlagen überhaupt", dem "Formalen der Intellektualität", sie nahm die intellektuellen und menschlichen Anlagen des Prüflings in Augenschein. Die zweite galt den positiven Kenntnissen, dem konkreten Wissen, da man Kräfte nur prüfen konnte, wenn man ihnen einen Stoff gab. Die Prüfung war für alle Lehramtskandidaten für die Gelehrtenschulen Pflicht, nur diejenigen, die sich einzig und allein dem Elementarunterricht widmen wollten, waren davon freigestellt. Die Sektion (für Kultus und öffentlichen Unterricht, die Humboldt unterstand) sicherte sich den Einfluß auf die Lehrer, die bereits im Amt waren, indem sie auch das Aufrücken in eine höhere Stellung und den Wechsel an eine andere Schule von einer vorhergehenden Prüfung des Anwärters abhängig machte. Der gesamte Lehrkörper wurde so der Aufsicht der Regierung unterstellt, denn der Nachwuchs konnte ja erst nach einigen Jahren zur Verfügung stehen. Den Lehrern an den Privatschulen wurde die Prüfung empfohlen, und Humboldt hoffte, daß durch das allgemein angehobene Niveau an den öffentlichen Schulen sich die privaten den Forderungen bald anschließen müßten. Da die Sektion keine Möglichkeit sah, die Hauslehrer zu kontrollieren, war auch ihnen das Lehrerexamen freigestellt.

Die Lehrer sollten gut bezahlt werden, und Humboldt hat trotz aller Not im Staate und leerer Kassen der Finanzverwaltung eindringlich gewarnt, beim Lehrergehalt zu sparen.

Humboldt baute darauf, daß durch diese Anforderungen ein Geist entstehen würde, "der, ohne Zunftgeist zu sein, eine feste und sicher zum gemeinschaftlichen Ziel hinstrebende Richtung hat. Es entsteht eine pädagogische Schule, und eine pädagogische Genossenschaft, und wenn es wichtig ist, durch Zwang bewirkte Einheit der Ansichten zu verhüten, so ist es ebenso wichtig, durch eine gewisse Gemeinschaft (die nie ohne eine Absonderung des nicht zu ihr Gehörenden denkbar ist), eine Kraft und einen Enthusiasmus hervorzubringen, welche dem einzelnen und zerstreuten Wirken immer fehlen, welche den Schlechten von selbst entfernen, den Mittelmäßigen heben und leiten und die Fortschritte auch der Besten noch befestigen und beflügeln."

 

Neuhumanistische Pädagogik

Wilhelm hatte auch Pläne für eine pädagogische Ausbildung der Lehramtskandidaten; er wollte im philologischen Seminar von Wolf, das an der neuen Universität Berlin eingerichtet werden sollte, eine pädagogische Abteilung ansiedeln. "Der Hauptzweck des neuen Seminars sollte sein, in Berlin in kurzer Zeit eine bedeutende Anzahl praktisch brauchbarer Schulmänner für das In- und Ausland zu bilden, mehr als es vormals in Halle geschehen konnte." Die Seminaristen sollten aus den oberen Semestern kommen und nicht nur philologische Vorlesungen hören, sondern auch als Praktikanten im Unterricht an den Berliner Gymnasien tätig sein. Der Direktor der Schule sollte ihren Lektionen beiwohnen und selbst gelegentlich Musterlektionen halten. In einen Kursus, der sich über zwei bis zweieinhalb Jahre erstreckte, sollten so wissenschaftlich und praktisch bewanderte Lehrer ausgebildet werden, von denen eine Verbesserung des ganzen Schulwesens ausgehen sollte. Doch Wolf widersetzte sich diesem Plan, so daß das Seminar erst einige Jahre später unter Leitung seines Schülers August Boeckh zustande kam.

1787 hatte Friedrich August Wolf an der Universität Halle ein philologisches Seminar gegründet, in dem neben den "eigentlichen philologischen und humanistischen Übungen" Unterrichtsversuche gemacht wurden. Zum ersten Mal wurde hier das Ziel formuliert, gelehrte Schulmänner zu bilden. Neben den Studien in den alten Sprachen und den Geisteswissenschaften wurden zwei bis drei Stunden Übungen in der Woche auf Gegenstände des Schulunterrichts und das "Disputieren über pädagogische Materien und dergleichen" verwandt. Die Seminaristen hielten regelmäßig "ordentliche Lehrstunden" in Hallenser Schulen unter den Augen des Meisters. Aus Wolfs Seminar gingen die tüchtigsten Schulmänner der Zeit hervor, die Humboldts Bildungsreform umsetzten und zu ihrem schnellen und dauernden Erfolg beitrugen. Bedeutende pädagogische Seminare gab es außerdem in Berlin unter Friedrich Gedike und in Königsberg, das 1810 von Johann Friedrich Herbart übernommen wurde.

Die pädagogischen Seminare waren nicht selbständig, sondern alle Teil der philologischen Abteilungen, was ihren Stellenwert beschreibt. Auch hier galt der Wissenschaft das Hauptaugenmerk. Der erste Zweck der Pädagogik war nicht, Schulmänner zu bilden, sondern die Altertumswissenschaftler "durch möglichst vielfache Übungen, die in das Innere der Wissenschaft führen, und durch literarische Unterstützung jeder Art weiter und so auszubilden, daß durch sie künftig diese Studien erhalten, fortgepflanzt und erweitert werden", hieß es in den Statuten des philologischen Seminars an der Universität Berlin, das von dem berühmten Altphilologen August Boeckh im Jahre 1812 eingerichtet und geleitet wurde. Im Mittelpunkt stand die wissenschaftliche Arbeit, die praktische Vorbildung für den Beruf spielte eine untergeordnete Rolle gemäß dem Wahlspruch: docendo discitur docere -- lerne lehren, indem du lehrst. "Habe Geist und wisse Geist zu wecken", in diesem Satz faßte Wolf seine Pädagogik zusammen. Wer das Wissen habe, der könne auch lehren, doch dürfe man nicht der Wissenschaft Grenzen setzen, indem man sich ihr in der Absicht, "sie für den nächsten und notwendigsten Bedarf" zu nutzen, widme. Außerdem könne man den Umgang mit Menschen nicht aus einem psychologischen Lehrbuch erlernen, war die damalige Auffassung.

Der große Umschwung in den Schulen vom mechanischen, gedächtnismäßigen Lernen zum selbständigen Arbeiten und geistigen Erfassen der Dinge vollzog sich im Rahmen der allgemeinen Begeisterung für Wissenschaft und ohne das Zutun von pädagogischen Lehrbüchern und Maßregeln. Humboldt hatte bis zu seiner Berufung als Leiter des preußischen Erziehungswesens nie ein pädagogisches Buch in den Händen gehalten, und was für ein Pädagoge war er! Seine Pädagogik wurde durch zwei Quellen gespeist: der Liebe zum Menschen und der Liebe zur Wissenschaft. Das Übrige taten ausgedehnte Besuche im Unterricht. Er liebte es, ganze Vormittage in den Schulklassen zuzubringen, wo er sich ganz normal am Unterricht beteiligte und sich selbst ein Bild machen konnte.

Der Unterricht war nicht "problemorientiert", der Lehrer wurde nicht mit allen möglichen Verhaltensmaßregeln, die er im Umgang mit Schülern zu beachten hatte, gegängelt. Der Schulunterricht sollte "Sehnsucht nach der Wissenschaft" wecken, dazu brauchte man Lehrer, die in ihrem Fach selbständig wissenschaftlich arbeiteten, die sich ganz auf das Vermitteln von Ideen konzentrierten. Nicht umsonst hatte Humboldt gefordert, daß jeder Gegenstand im Unterricht "auf eine die Empfindung stark bewegende Weise" behandelt werden müsse. Begeisterung wecken, lautete die Losung, Herz und Verstand für große Ideen entflammen. Nur so lernt man, und nicht nach dem Prinzip des Nürnberger Trichters. Dieses wesentliche Prinzip wird in der gegenwärtigen öffentlichen Debatte vollkommen mißachtet. Auch der heutige Jugendliche ist mehr als ein etwas komplexerer Computer. Es reicht nicht, ihn durch einen "Lernberater" mit neuen, raffinierten "Lernarrangements" zu füttern, auch er will als ganzer Mensch erfaßt und gewürdigt werden. Das Interesse des Lehrers an der Sache, die er dem Schüler beibringen soll, und seine lebendige Teilnahme an allem, was den Schüler bewegt, ist der wesentliche Aspekt des Lernens.

 

Rücktritt und Abschluß der Bildungsreform

Humboldts Reform stieß überall dort auf Widerstand, wo er in überlieferte Gewohnheiten eingriff und wo die Nutznießer der Pfründe sich bedroht sahen. So sträubten sich z.B. die Sonderkuratorien der Schulen gegen die Unterstellung unter die Sektion, da sie ihre Weiterexistenz bedrohte. Ganz massiv war der Widerstand unter den Junkern. Die Großgrundbesitzer und die Eigner der Manufakturen fürchteten gleichermaßen um ihre billigen, duldsamen Arbeitskräfte und wollten den Wegfall des berufsorientierten Unterrichts nicht dulden. Auch in der Regierung wuchs die Front gegen Humboldts kompromißlosen Reformkurs. Obwohl seine Umgestaltung bereits überall sichtbare Wirkung zeigte, verfolgten der Hof und das Kabinett Humboldts Aktivitäten immer reservierter. Nachdem man vom Stein losgeworden war, hatte man es nun mit einem ähnlich kompromißlosen Geist zu tun. Doch, so schrieb er an seinen Freund Wolf, "man muß auch am Rande des Abgrundes das Gute nicht aufgeben. Ich arbeite mit ununterbrochenem Eifer fort, und wie schlimm auch die Sachen kommen könnten, sehe ich doch den Zeitpunkt nicht, wo uns nicht von irgend einer Seite her ein lebendiges und nützliches Wirken übrigbliebe. Sie sehen, daß es mir nicht an Mut fehlt."

Steins Kabinettsreform war nur halb ausgeführt worden, und Humboldt spürte diesen Umstand empfindlich. Schon in der Nassauer Denkschrift hatte Stein die Einrichtung eines Staatsrates, eines obersten zentralen Regierungsorgans, bei dem die Staatsminister und die Chefs der wichtigsten Abteilungen direkt mit dem König beraten und entscheiden sollten, gefordert, verwirklicht war er noch immer nicht. Direkten Zugang zum König hatten nur der Staatskanzler und eingeschränkt die Minister, die Leiter der Ressorts mußten das Ohr des Monarchen über die Minister suchen. Dies ließ allen möglichen Winkelzügen und Eifersüchteleien Raum, die die Arbeit behinderten, ja, wie Humboldt schließlich in seinem Entlassungsgesuch feststellte, unmöglich machten. Schon am 18. April 1809 hatte er die Zustände am Hof seiner Frau mit den Worten geschildert: "Unter den Ministern, den geheimen Staatsräten und anderen Bureaus ist hier ein eigenes und für den Augenblick belustigendes, hernach aber verdrießliches Treiben. Die neue Verfassung ist halb ausgeführt, und die andere Hälfte scheuen sich die Minister auszuführen. Bei viel anscheinender Einigkeit arbeitet nur einer gegen den andern ..."

Die absolutistische Regierungsform hatte ihre Spuren hinterlassen: "So wie man hier einen Menschen finden soll (für einen Posten, rtb), ist immer eine Not und eine Qual. Die göttliche Art, wie man bisher regierte, hat es wirklich dahin gebracht, daß fast niemand recht brauchbares da ist," schrieb er seiner Frau gleich nach seinem Amtsantritt. Der von vom Stein so gehaßte "Mietlingsgeist" unter den hohen Beamten, der "Formelkram und Dienstmechanismus" bei den Regierungsgeschäften war immer noch vorherrschend. Richtig fühlbar wurde dieser Umstand, als Wilhelm gegen die monarchische Allmacht aufstand und ihm keiner im Kabinett zur Seite sprang.

Die Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht, die Humboldt leitete, war dem Innenministerium unterstellt. Sein Ressort gliederte sich in zwei Abteilungen: die Abteilung Kultus, die von Georg Heinrich Nicolovius geleitet wurde, und die Abteilung öffentlicher Unterricht, der ebenfalls Humboldt vorstand. In beiden Abteilungen waren dem jeweiligen Vorsitzenden je drei Staatsräte beigeordnet, zu denen sich noch der Direktor der Wissenschaftlichen Deputation und einige Mitglieder aus der höchsten Geistlichkeit gesellten. Viele Zuständigkeiten überschnitten sich, es gab Eifersüchteleien und Reibungspunkte, und gerade die hohe Geistlichkeit verfolgte Humboldts Aktivitäten mit großer Zurückhaltung, verlor sie doch durch ihn den dominierenden Einfluß auf die Erziehung der Jugend, den sie über Jahrhunderte hindurch wie selbstverständlich ausgeübt hatte.

Wilhelm wollte dem allgemeinen Wirrwarr ein Ende machen, indem seine Sektion zum selbständigen Ministerium erhoben und dadurch direkten Zugang zu der Zentralverwaltung erhalten sollte. Er drängte darauf, daß vom Steins Kabinettsreform endlich verwirklicht werden müsse, doch die Minister waren dagegen; sie schlugen statt dessen dem König vor, einen interimistischen Staatsrat zu bilden -- der nur beratende Funktion haben sollte -- und im Interesse der monarchischen Zentralisation das Amt eines Premierministers zu schaffen. Der König nahm diesen Vorschlag an. Humboldt protestierte: "Der neue Staatsrat bringt keine Einheit in die Verwaltung, sondern ist ein bloßer Name und legt die ganze Tätigkeit der Sektionschefs lahm", schrieb er am 29. April 1810 an den König. Einen Monat später erneuerte er sein Entlassungsgesuch, denn unter der neuen Organisation "hört alle zweckmäßige Geschäftsverwaltung, aller Mut zu neuen, wichtigeren Operationen, alle Hoffnung auf Erfolg auf".

Am 23. Juni 1810 legte Humboldt sein Amt als Leiter der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht nieder. In der Öffentlichkeit wurde sein Scheiden ungemein bedauert, unter den Monarchisten dürfte Erleichterung geherrscht haben. Gegenüber seiner Frau faßte er sein Wirken zusammen: "Ich hatte einen allgemeinen Plan gemacht, der von der kleinsten Schule an bis zur Universität alles umfaßte, und in dem alles ineinandergriff, ich war in jedem Teil desselben zu Hause, ich nahm mich des kleinsten wie des größesten, ohne Vorliebe, mit gleicher Tätigkeit an, ich ließ mich durch keine Schwierigkeit abschrecken; wo ich für eine Sache augenblicklich schlechterdings nichts tun konnte, wandte ich mich sogleich auf eine andere; ich hatte, wie die wirkliche Niedergeschlagenheit bei meinem Abgang beweist, allgemeines Vertrauen."

Er war nur 16 Monate im Amt, doch er hatte überall die entscheidenden Anfänge gemacht und die zentralen Impulse gegeben und sogar einiges zu Ende geführt. Seine Nachfolger Georg H. Nicolovius -- der mit Goethes Nichte verheiratet war -- und der Philologe Johann W. Süvern waren die ganze Zeit über seine engsten Mitarbeiter und Mitstreiter gewesen; sie führten Humboldts Idee gegen mannigfache Widerstände zu Ende. Und schließlich wurde im Jahre 1817 auch Humboldts politische Forderung nach einem selbständigen Kultusministerium verwirklicht.

Humboldt hatte am 21. Mai die Wissenschaftliche Deputation angeordnet, einen allgemeinen Schulplan zu entwerfen. Im Juli 1812 wurde das Edikt "wegen Prüfung der zu den Universitäten übergehenden Schüler" veröffentlicht. Obligatorische Prüfungsfächer waren Latein, Griechisch, Französisch, Deutsch einerseits; Geschichte, Geographie, Mathematik, Physik und Naturbeschreibung andererseits. Der Prüfling mußte einen deutschen, lateinischen, französischen und mathematischen Aufsatz abfassen, ferner eine Übersetzung aus dem Griechischen und ins Griechische. In allen Fächern außer Religion wurde er mündlich geprüft. Bei der Interpretation alter Schriftsteller wurde lateinisch gesprochen. Drei Jahre später wurde das Französische als allgemein verbindliches Lehrfach aus dem Unterricht genommen.

Die Prüfungsordnung trug deutlich Humboldts Handschrift: "Im Griechischen muß der Examinandus die attische Prosa, wozu auch der leichte Dialog des Sophokles und Euripides zu rechnen, nebst dem Homer, auch ohne vorhergehende Präparation, verstehen; einen nicht kritisch-schwierigen tragischen Chor aber, im Lexikalischen unterstützt, erklären können. Auch muß er eine kurze Übersetzung aus dem Deutschen ins Griechische, ohne Verletzung der Grammatik und Akzente, abzufassen imstande sein."

Schon Humboldt hatte eine "einheitliche Unterrichtsverfassung" angestrebt, wodurch die einzelnen Unterrichtsgegenstände in ihrem Verhältnis zu einander bestimmt und der Unterrichtsgang durch den ganzen Kursus geregelt werden sollte. Auch sie wurde 1812 durch Süvern fertiggestellt und gilt als "Konstitutionsakte des neuen Gymnasiums" (Paulsen). Das Gymnasium, wie die Gelehrtenschule von nun an genannt wurde, hatte einen zehnjährigen Kursus, der in sechs Klassen gegliedert war, die von unten auf VI bis I gezählt wurden. Die beiden Unterklassen dauerten jeweils ein Jahr, die Mittelklassen in IV ein, in III zwei Jahre, die beiden Oberklassen in II zwei, in I drei Jahre (Abb. 1).

Die Unterrichtsgegenstände bildeten keine zufällige Ansammlung zusammengewürfelter, interessanter Themen, sondern eine "organische Einheit", die dem "Organismus der Wissenschaften selbst" entsprach. Die "harmonische Ausbildung des Geistes" war gesichert, wenn der Schüler gleichmäßig an allen Fächern teilnahm. Den Schulen wurde ausdrücklich aufgetragen, "sorgsam zu verhüten, daß sie nicht die unharmonische Bildung und die Einseitigkeit derselben begünstigen, welche durch zu rasches Voreilen des Schülers in einigen Lieblingsobjekten und sein unverhältnismäßiges Zurückbleiben in anderen entsteht".

Die Unterrichtsziele in den vier Hauptfächern lauteten:

"In den alten Sprachen muß er auf der oberen Bildungsstufe (II und I) so weit vorgerückt sein, daß er sich ihrer auch als Darstellungsmittel bedienen könne, ohne ihre Eigentümlichkeit zu verletzen. Dabei muß er in sämtlichen Gebieten der Sprachen nicht fremd sein und sich mit den allgemeinen Hilfsmitteln überall durchzuhelfen wissen, wo nicht Schwierigkeiten sind, deren Auflösung nur durch höhere philologische Kunst zu bewirken ist. Im Lateinischen muß er daher im ganzen den Cicero, Livius, Horaz auch ohne Vorbereitung geläufig lesen, mit genauerer Überlegung auch den Tacitus. Das Lateinische muß er rein und fehlerlos ohne Germanismen schreiben und über angemessene Gegenstände einfach und grammatisch richtig sich auch mündlich ausdrücken lernen. Im Griechischen muß die attische Prosa und der Homer ohne Vorbereitung verstanden werden, mit Hilfe eines Wörterbuchs auch ein tragischer Chor. Ein leichtes deutsch diktiertes Thema muß in allen Teilen sprachrichtig und ohne Fehler gegen den Akzent niedergeschrieben werden können. Im Hebräischen muß der künftige Theologe fertig lesen, der Formen mächtig sein und leichte Stellen aus den historischen Büchern verstehen. Gelesen werden mag in II Livius, Cicero, Virgil, Xenophon, Homer, in I Cicero, Tacitus, Horaz, daneben auch Terenz, Plautus u.a., Homer, Sophokles, Herodot, Plato, Demosthenes. In beiden oberen Klassen muß bei der Erklärung der Alten und in allen Lektionen antiquarischen Inhalts lateinisch gesprochen und die Fertigkeit in lateinischer Rede fleißig geübt werden.

Im Deutschen muß der Sinn für Schicklichkeit und Angemessenheit ausgebildet werden, ebenso für die verschiedenen Gattungen der Schreibart, für das Rhythmische und die Verständlichkeit des Einzelnen und Ganzen, welche Übung in der Interpretation den Schüler einerseits für das Verhältnis der Theorie der redenden Künste, andererseits für die Interpretation der alten Schriftsteller auf der Universität vorbereitet. Die klassischen Schriftsteller der Nation müssen dem Jüngling mehr als dem Namen nach bekannt werden." Auch hier waren Lektüre und Übungen im schriftlichen und mündlichen Vortrag die Unterrichtsmittel. Ab II lag der Schwerpunkt auf der "Lektüre in allen Gattungen klassischer Werke, aus dem 18. und aus früheren Jahrhunderten, in Prosa und Poesie."

Der Unterricht in Mathematik war folgendermaßen aufgebaut: "In V beginnen Algebra und Geometrie, in IV Theorie der Gleichungen und Geometrie nach dem 6,. 11,. 12. Buch des Euklid, in III Logarithmen und analytische Geometrie; geometrische Konstruktion fällt als zu zeitraubend weg und kann unter Leitung des Lehrers Objekt häuslicher Beschäftigung werden; in II Lehre von den Reihen, ebene und sphärische Trigonometrie, Kegelschnitte; in I Gleichungen 3. und 4. Grades, Anfangsgründe der unbestimmten Analytik, Fortsetzung der Lehre von den Reihen, Wahrscheinlichkeitsrechnung; daneben in der Hälfte der Stunden angewandte Mathematik, besonders die mechanischen Wissenschaften."

Mit diesem Lehrplan war das moderne Gymnasium in Preußen konstituiert. Eine harmonische Ausbildung aller Kräfte des Geistes durch Sprachen und Literatur, durch Mathematik und Realwissenschaften war das Ziel des Unterrichts. Der Abiturient wurde mit einer allseitigen, formalen Bildung des Verstandes, sicherem Können in den Sprachen, die zur Gelehrsamkeit nötig erachtet wurden, einem bedeutenden Maß von Fertigkeiten und Einsichten in den mathematischen Wissenschaften, endlich einem umfassenden Besitz wissenschaftlicher Kenntnisse auf dem Gebiet der natürlichen wie der geschichtlichen Welt in das Leben entlassen.

 

Wirkung der Ideen

Der Griechischunterricht war Humboldts ureigenstes Anliegen, und er hat ihn gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt. Wie recht er hatte, wie glänzend seine Erwartungen erfüllt wurden, zeigte sich an dem enormen Eifer und der Begeisterung, auf die dieses Studium auch in breiteren Schichten der Bevölkerung stieß. Die neuhumanistische Pädagogik, die den Nützlichkeitsgedanken durch das griechische Ideal des Gottmenschen ersetzte, wurde zu einer überwältigenden, mitreißenden Strömung, die Rationalismus und Aufklärung aus Schulen und Universitäten regelrecht hinwegschwemmte.

Bereits 1812 stellte die Sektion fest: "Was ... die alten Sprachen betrifft, so sind sie zu allgemein unter uns Deutschen als das eigentliche Medium jeder höheren Bildung anerkannt, als daß auch nur zu besorgen wäre, sie könnten jemals aus unserer gelehrten Schule vertrieben werden." Wie wirksam Humboldts Reform war, zeigt eine Bemerkung der Deputation aus demselben Jahr, wonach das Studium des Griechischen solche Fortschritte gemacht habe, daß jeder Gebildete, auch der Angehörige des Mittelstandes, diese Sprache kennen müsse. Daher sei die Stundenzahl zu vermehren und Freistellung nicht mehr zu bewilligen, vielmehr der freiwillige Anfang in Quinta zu begünstigen. Auch das Deutsche erhielt nun einen ersten Platz in der Geistesbildung.

Nicht nur verstanden im 19. Jahrhundert alle Studierenden Griechisch, etwas, das in zurückliegenden Epochen von einigen immer wieder gewünscht, aber als völlig utopisch zurückgewiesen worden war, sondern auch weit über diese Schicht hinaus gehörte das Griechische zur Vorbildung und zur Alltagskultur. Viele Baumeister, Postbeamte, Offiziere, Kaufleute, Chemiker, Zahnärzte und Angehörige anderer nicht wissenschaftlicher Berufe kannten "ihren" Homer in- und auswendig und konnten zumindest ganze Passagen daraus in Griechisch rezitieren. Der berühmte Heinrich Schliemann, der aus einfachen Verhältnissen stammte, ist ein Beispiel dafür.

Der Adel, der als herrschender Stand bisher der Träger der Bildung und Kultur gewesen war, verlor diese Stellung an das Bürgertum. Die Bildung des Adels war französisch gewesen, seine Kultur ebenfalls. Von den Höfen aus hatten Rationalismus und Aufklärung die Universitäten erobert und waren in die allgemeine Bildung eingedrungen. Nun wendete sich das Blatt. An die Stelle der französischen Bildung trat die hellenistisch-deutsche. Das Griechische war wahrhafte Menschenbildung und galt bald als höher und vornehmer. Mit dem Griechischen gewann auch das Deutsche an Bedeutung. Die lateinische Imitation trat zurück, das Deutsche rückte als Sprache der Literatur und der Bildung, der Philosophie und der Wissenschaft in den Mittelpunkt. Schließlich mußte sich auch der Adel entschließen, den Prinzen und Grafen griechisch beibringen zu lassen, wollte er im öffentlichen Ansehen nicht zurückstehen.

Humboldt hatte der Aristokratie des Adels die Aristokratie des Geistes gegenübergestellt, und seine Erwartungen wurden auf das schönste erfüllt. In dem Maße, wie sich das Griechische in der allgemeinen Bildung durchsetzte, wurde die höfische Kultur auf den zweiten Rang verdrängt. Zum ersten Mal wurde das Bürgertum dank seiner höheren, vom griechischen Humanismus geprägten Kultur formgebend für den "ersten" Stand, den Adel. Während die ganze Welt wie gebannt nach Frankreich starrte, wo die großen Schlagzeilen produziert wurden, vollzog sich die wahre Revolution, eine tiefgehende und dauerhafte Änderung der Gesellschaft, still und weitgehend unbeachtet in Preußen.

 

Die Glanzzeit der Schule

In den Erinnerungen einiger, die in der "Glanzzeit der Schule", die zwischen 1810 und 1837 datiert wird, zur Schule gingen, läßt sich der Geist, der damals herrschte, am ehesten wiedergeben. Im Lehrplan des Jahres 1837 wurde Latein wieder zum dominierenden Hauptfach aufgewertet und das Griechische an die Peripherie gerückt. In dem herrlichen Buch von Friedrich Paulsen "Geschichte des gelehrten Unterrichts" (siehe Kasten) sind Beispiele aus dieser fruchtbarsten Zeit, die die Schulen je erleben durften, abgedruckt. Die folgenden Auszüge sollen einen Eindruck vermitteln:

"Die Leitung des alten akademischen Gymnasiums in dem eben preußisch gewordenen Danzig übernahm 1817 A. Meineke (1790 bis 1870) ... Als seine Aufgabe ... sah er an: erstens das französische Wesen, dessen Nachwirkung noch zu bemerken war, zu entfernen, zweitens, ,die vorzugsweise kaufmännische und handeltreibende Bevölkerung Danzigs nicht in den materiellen Bestrebungen verkommen zu lassen, sondern sie auf den humanistischen Standpunkt emporzuheben'. Der Schulunterricht wurde darauf gestellt, das ,jugendliche Gemüt mit dem Marke des Altertums zu kräftigen'. Am meisten wurde auf die Dichter Gewicht gelegt, vor allem waren ihm die griechischen Tragiker wert; die Chöre pflegte er selbst vorzulesen und gab dazu eine poetisch gefärbte Übersetzung. Es wurde rasch gelesen, zwei oder drei Tragödien in einem Semester mit zwei oder drei wöchentlichen Stunden; grammatische und lexikalische Bemerkungen nicht über das Notwendige ausgedehnt. ,Durch Privatlektüre den Kreis der Lektüre erweitern und dadurch zugleich die Selbsttätigkeit zu erregen war eines der Hauptgeheimnisse seiner Wirksamkeit ... Ebenso wurde im Interesse der Selbsttätigkeit auf die Produktion, prosaische und poetische, großes Gewicht gelegt; schon in V begannen prosodische Übungen, die dann von III auf zu poetischen Versuchen wurden ... Die Leistungen der Anstalt waren unter der alles belebenden Leitung des jugendlichen Direktors ... vorzüglich. Lehrs, der unter ihm Lehrer war, rühmt, es sei alles wie von selbst gegangen, man sah nichts von Maschinerie, Meineke dirigierte, soviel man sah, allein mit seiner Charis."

"Das Wittenberger Gymnasium wurde auf der neuen Grundlage von Franz Spitzner (1787-1841) ... organisiert; er stand demselben von 1814-1820 ... vor ... Die Zahl der Klassen betrug nur vier, Untertertia als besondere Klasse gerechnet; in ihnen unterrichteten sechs bis acht Lehrer etwas über 100 Schüler ... Latein wurde mit sieben bis acht Stunden durch alle Klassen getrieben ... Griechisch begann in U III mit vier Stunden; in O III und II kamen auf Xenophon und Homer vier Stunden, auf Grammatik und Übungen eine Stunde; in I auf Plato (Apologie und Gorgias) zwei, Ilias und Sophokles anfangs zwei, später vier Stunden, auf Grammatik und stilistische Übungen eine Stunde. Mathematik wurde mit vier Stunden, Naturwissenschaften mit zwei Stunden durch alle Klassen getrieben ...

In dem Leben Ritschls von Ribbeck kann man sehen, wie dieser Unterricht auf einen begabten Schüler wirkte. Ein längeres griechisches Gedicht über die Schlacht bei Breitenfeld, beim Reformationsfest 1824 vorgetragen, ist in seinen kleinen Schriften... abgedruckt; es zeigt, mit welcher Freiheit der 18jährige Primaner in der Homerischen Form und Sprache sich bewegte."

Spitzner beteiligte ältere Schüler am Unterricht und an der "Handhabung der Disziplin; sie wurden zu Inspektoren und Famulis ernannt", eine Methode, die äußerst segensreiche Wirkung gehabt habe.

Paulsen berichtet, daß in der Oberstufe der Gelehrtenschulen z.B. Homer im Original gelesen, dann Abschnitte daraus in lateinische und deutsche Verse übertragen wurden und umgekehrt. Metrische Übungen haben offenbar viel Raum eingenommen. Über das Gymnasium zu Frankfurt an der Oder, dem E. Poppo von 1817 bis 1863 als Direktor vorstand, berichtet Paulsen: "Poppo ... sprach und schrieb nicht bloß lateinisch, sondern auch griechisch leicht und fließend. In I dozierte er ausschließlich in lateinischer, hin und wieder jedoch interpretierte er griechische Autoren in griechischer Sprache ...

Die Lektüre (im Griechischunterricht) beginnt in III mit Lucian, Xenophon, Homer; Lucian wird auch der häuslichen Lektüre empfohlen. In II werden vorzüglich Homer, Herodot und Xenophon gelesen; in I im ersten Semester von Prosaikern Plutarch, Isokrates, im zweiten Thucydides, im dritten Demosthenes, im vierten Platons kleinere Dialoge, im fünften Phaedo; von Dichtern im ersten Semester Homer, Hesiod, die Bukoliker, im zweiten Euripides, im dritten und vierten Sophokles und Aristophanes, im fünften Euripides, im dritten und vierten Sophokles und Aristophanes, im fünften Aeschylus und Pindar ... Um den Rhythmus der Homerischen Verse zur Empfindung zu bringen, können Versuche, die Verse nachzubilden, nicht erlassen werden. Sie beginnen mit Herstellung turbierter Verse und gehen dann zu eigenen fort. Auch in deutsche Verse werden die griechischen übersetzt; sonst natürlich ins Lateinische ... Vom zweiten Semester ab werden durchaus freie griechische Arbeiten geliefert, historische, oratorische, philosophische Dialoge; daneben auch Kommentare oder Übersetzungen aus Tacitus oder Cicero. Zuweilen müssen auch poetische Arbeiten geliefert werden; der Schüler muß alle leichteren metra nachbilden lernen."

Damit die Skeptiker sich selbst einen Eindruck von der Wirksamkeit dieser Unterrichtsmethode verschaffen konnten, zeigte Direktor Poppo gerne eine "über einen Bogen lange Rede" auf griechisch, die einer seiner Schützlinge einige Monate vor seinem Abschluß eingereicht hatte. Voller Stolz wünscht der Direktor, "daß man bei der Beurteilung nicht bloß die grammatische Richtigkeit, die attische Sprache, den Wohlklang, sondern auch den Geist des Altertums beachte, um zu erkennen, ob unsere Schüler bloße Wörter aus den Alten lernen, oder ob sie erkennen, was im Altertum so herrlich strahlte und jetzt von der Erde verschwunden ist".

Paulsen faßt diese "Glanzzeit der Schulen" zusammen: "So begegnen wir in dem ersten Jahrzehnt nach der neuhumanistischen Reformation der Gymnasien überall fröhlicher Tätigkeit. Jugendliche Männer, selbst von den neuhumanistischen Ideen begeistert, gehen mit Begeisterung an das Werk, die Jünglinge mit diesen Anschauungen zu durchdringen und sie zu freien und wahrhaft gebildeten Menschen zu machen ... Sie besaßen, was die erste Bedingung der Wirksamkeit in der Schule ist: den Glauben an die Sache, an den ewigen Wert und die unvergleichliche Würde des Altertums. Sie erfreuten sich dazu, und das ist die zweite Bedingung fruchtbarer Wirksamkeit, weitgehender Freiheit und Selbständigkeit, sie konnten ihre ganze Persönlichkeit in den Unterricht legen und ihn ganz nach den eigenen Ideen gestalten, ungehemmt durch Reglements und Kontrollen, unbesorgt um Mißdeutungen oder Denunziationen, wie sie bald die Tätigkeit des Lehrer von allen Seiten umgeben sollten. In dieser Zeit blickte alles mit Vertrauen und Hoffnung auf die Schule, die die bessere Zukunft herbeiführen helfen sollte. Und damit war denn die dritte Bedingung des Gedeihens der Schularbeit gegeben: die Lust und Liebe der Lehrer zum Beruf. Die herkömmlichen Klagen über die Beschwerlichkeit und Unfruchtbarkeit des Schulmeistertums verstummen in dieser Zeit. Dafür erklingt hin und wieder begeistertes, ehrlich empfundenes Lob auf das Schulamt.

,Mit Freudigkeit', sagt der scheidende Lehrer Jacobs in der Rede, mit welcher er von der Gothaer Schule Abschied nahm, um nach München überzusiedeln (1807), ,bekenne ich hier, daß ich in diesem Geschäft immer die Heiterkeit und den frohen Sinn wiedergefunden habe, der mir etwa durch andere Verhältnisse entwichen war; daß ich diese Zimmer oft voll Unmuts betreten, aber nie mit Unmut verlassen habe. Gibt es etwas Erfreulicheres, als die ununterbrochene Beschäftigung mit der Blüte der Künste und Wissenschaften, wie sie in den schönsten Zeiten, von den edelsten Menschen, unter den ruhmvollsten und geistreichsten Völkern gepflegt worden? Oder wäre ein würdigeres Geschäft zu denken, als den Sinn für das Edelste und Schönste, was sich je in dem menschlichen Geiste gestaltet hat, andern zu öffnen, und die empfänglichen Seelen einer unverdorbenen Jugend mit des Altertums Größe und Hoheit zu nähren?'"

Ein schönes Beispiel für den herzlichen und ganz persönlichen Umgang, den damals Lehrer und Schüler miteinander pflegten, erzählt uns der Sprach- und Mathematiklehrer des großen Mathematikers Bernhard Riemann, Schmalfuß, in seinen Erinnerungen: "Im ersten Jahr seines Primabesuches bat er mich um mathematische Lektüre: ,Wenn sie nicht zu leicht wäre', fügte er in seinem bescheidenen Tone hinzu, ,so wäre es mir recht lieb!' -- Ich wies ihn an mein Bücherbrett. Da kam er dann mit Legendre: Theorie der Zahlen. ,Versuchen Sie', war meine Antwort, ,was Sie verstehen.' Das war am Freitagnachmittag. Am Donnerstag darauf brachte er mir das Buch wieder: ,Wie weit sind Sie darin gekommen?' -- ,Das ist ja ein wunderbares Buch; ich weiß es auswendig!' -- Bei der Reifeprüfung, bis wohin er das Werk nicht wieder vor Augen gehabt hat, bewies er, daß ihm alles, worauf ich als Examinator mich nicht ohne Mühe vorbereitete hatte, um angemessene Aufgaben nach Legendre zu stellen, geläufig war ... In der Prüfungskommission, die über Riemanns Zensur abzustimmen hatte, konnte ich mit gutem Recht (sagen) ..., daß ich Riemann ungleich mehr verdanke als er mir ... Ich für meinen Teil habe es immer für ein großes Glück angesehen, daß ich einen solchen Schüler wie Riemann gehabt habe, und ich bin ihm noch heute für die vielfachen Anregungen, die er mir gegeben hat, und für die Freude, die ich an seiner wunderbaren Begabung und Entwicklung gehabt habe, für meine ganze Lebenszeit dankbar."

Für sehr viele Lehrer gab es kein "würdigeres Geschäft", und der Lehrerberuf rückte sehr schnell von einem verachteten Notbehelf in eine hoch geachtete Stellung. Die Lehrer an der Gelehrtenschule wurden zu den gelehrtesten Menschen gezählt, sie galten als am umfassendsten gebildet, und der Lehrer stand in der gesellschaftlichen Achtung dem Universitätsprofessor kaum nach. Es gäbe keinen Ort, auch nicht die Universität, an dem man z.B. so sinnreiche Dispute über Philosophie und Philologie führen könne, wie im Lehrerkollegium eines Gymnasiums, hieß es zu jener Zeit, und Zeitgenossen heben die völlige geistige Freiheit, die an den Schulen geherrscht habe, als besonders wohltuend hervor. Hier war der Ort, an dem man über jedes erdenkliche Thema gelehrte Auseinandersetzungen führte, hier fand man sowohl die allumfassende Bildung und hervorragende Kenntnis als auch das freie geistige Klima dafür vor.

Auch wenn in den darauffolgenden Jahrzehnten in einigen Aspekten Abstriche von Humboldts Idee einer allumfassenden Menschenbildung gemacht wurden, sein Bildungssystem wirkte so mächtig, zeitigte so herrliche Erfolge, daß es bald in der ganzen Welt einen legendären Ruf genoß. Die Schulen und Universitäten entließen nicht nur hochgebildete, kultivierte junge Menschen, sondern eine Fülle hochbegabter Forscher, Erfinder und Künstler, die große Beiträge in ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern leisteten, so daß man bald im Ausland von "deutscher Kultur" und "deutscher Wissenschaft" sprach. Noch in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts hieß es z.B., ein Gelehrter sei in der glücklichen Lage, zwei Vaterländer zu haben: sein eigenes und Deutschland, denn gleichgültig, in welchem Spezialgebiet der Wissenschaft, der Technik oder der schönen Künste er gerade arbeitete, der jeweilige Boden war ganz entscheidend durch Beiträge deutscher Wissenschaftler, die in Humboldts Bildungssystem erzogen worden waren, bereitet worden.

Als letzter Zeuge sei noch der amerikanische Schriftsteller Mark Twain erwähnt, der in seinem Buch "Bummel durch Europa", der ihn 1878 auch in Heidelberg Station machen ließ, von dem Eindruck erzählt, den die Studenten auf ihn machten: Der deutsche Student "hat das Gymnasium mit einer Bildung verlassen, die so umfangreich und vollständig ist, daß die Universität höchstens noch einige ihrer tiefgründigeren Spezialgebiete vervollkommnen kann. Es heißt, wenn ein Schüler das Gymnasium verläßt, besitzt er nicht nur eine umfassende Bildung, sondern er weiß, was er weiß -- er ist nicht von Ungewißheit umnebelt, es ist so in ihn hineingebrannt, daß es haftet. Zum Beispiel liest und schreibt er nicht nur Griechisch, sondern er spricht es auch; das gleiche gilt für Latein. Ausländische Jünglinge machen um das Gymnasium einen Bogen; seine Regeln sind zu streng. Sie gehen zur Universität, um ein Mansardendach über ihrer ganzen Allgemeinbildung zu errichten; aber der deutsche Student hat schon sein Mansardendach, darum geht er hin, um ein Türmchen in Gestalt irgendeines Spezialfaches hinzuzufügen, wie etwa eines besonderen Zweiges der Gesetzteskunde oder der Medizin oder der Philologie ..."

 

Humboldt heute

Das wirklich Frappierende an seiner Leistung ist, wie Humboldt eine bloße Idee, eine ideale Vorstellung von reinem Menschentum in Verwaltungsgrundsätze umsetzte. Die Forderungen, die Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen aufstellte, wonach nur der ästhetische Mensch ein wirklich freier Mensch sei, hat Wilhelm in seiner Bildungsreform realisiert. Er hatte, wie er seiner Frau nach Rom schrieb, bei jedem einzelnen Verwaltungsakt immer nur dieses eine Ziel vor Augen.

Wer Humboldt liest, ist von der Aktualität seiner Ideen und seiner Warnungen geradezu bestürzt. Die Schule dürfe sich nicht an der Wirklichkeit, die sie umgibt, anpassen, lautete eine dringende Warnung, sonst werde sie ein Mittel zur wachsenden Entmündigung des Menschen. Wir haben das zugelassen, und wir müssen das Resultat bestätigen. Die verschiedenen Schulformen müßten klar voneinander unterschieden werden, die höhere dürfe nicht Bildungsinhalte der vorausgehenden aufnehmen, forderte er, sonst würde die letztere in der öffentlichen Achtung herabsinken. Auch diesen Grundsatz haben wir mißachtet und so insbesondere die Hauptschule immer weiter degradiert. Die Schule dürfe sich nicht in eine Vielzahl konkreter Bildungsinhalte verlieren, lautete eine weitere Mahnung, sonst vermittle sie Wissen anstelle von Bildung. Es scheint, Humboldt habe das Internet-Zeitalter vorhergeahnt. Gerade angesichts einer unübersehbaren Fülle von Information, einer Flut von konkretem Wissen, mit dem wir konfrontiert werden, ist die Konzentration auf prinzipielle, -- formgebende, wie Humboldt sagen würde -- Inhalte überlebenswichtig für den Geist. Die Masse von Einzelwissen beschleunigt die Partikularisierung des Denkens; wir verlieren uns immer mehr in raffinierte Einzelheiten, und entfernen uns dabei immer weiter von einem wirklich übergreifenden Verständnis unserer Umwelt.

Ebenso verhält es sich mit den Eliteschulen, die vor allem in Bayern und allgemein von der Industrie ins Gespräch gebracht werden; sie lösen das Problem nicht. Wie will man denn die "besten" Schüler finden? Im Endeffekt werden die besten diejenigen sein, die gute Schulnoten mit gewandtem Auftreten verbinden. Selbstverständlich hat man dabei "zwei Klassen von Menschen" im Auge, die große Masse der "normalen" Schüler, für die man die Bildung immer weiter bis zum bloßen Mindeststandard absinken läßt, die gerade noch zu brauchbaren Mitgliedern für die Arbeitswelt ausgebildet werden, und die kleine Klasse der Sprößlinge des neuen Geldadels, für die kein kultureller Leckerbissen teuer genug sein kann. Auch die Eliteklassen, wie sie jetzt in Berliner Gymnasien eingeführt werden sollen, zeigen, daß wir keinen Begriff mehr von Bildung haben. Dort sollen in sogenannten "Profilklassen" naturwissenschaftlich "begabte" Schüler bereits in der Oberstufe von Hochschulprofessoren unterrichtet werden. Das ist nun ganz bedenklich. Das ist Erziehung zu hochspezialisiertem Fachidiotentum und leitet zusätzlich noch einen Prozeß der Abwertung der Universitätsbildung ein.

Die Schule muß wieder der Ort werden, an dem es um die Darstellung und Beschäftigung mit Ideen geht, an dem sich der Geist in Ruhe formen kann. Nur wenn das Kind sich als Subjekt begreifen lernt, wird es im Leben nicht zum bloßen Objekt gemacht werden können. Es muß eine Idee davon bekommen, daß es etwas Höheres, Schöneres gibt, als was es jeden Tag erfahren muß. Deshalb muß die Schule notwendigerweise in einer Antithese zur Wirklichkeit stehen, sie muß Ideale aufstellen, und was wäre als Gegenpol zu unserem verwilderten, verflachten Zeitalter besser geeignet als die alten Griechen. So kann der Schüler die Wirklichkeit überprüfen, und er wird sie ganz ohne Frage dann auch verändern wollen. Auf diese Weise bildet man auch politische Staatsbürger heran, woran doch den Bildungsbastlern der letzten 30 Jahre angeblich so gelegen war, und nicht, indem man Kinder von klein auf mit Parolen konditioniert.

Wir stehen an einer ähnlichen Wegkreuzung wie der, an der sich vom Stein und Humboldt zu Beginn des 19. Jahrhunderts befanden, und wir haben Entscheidungen zu treffen, die von der exakt gleichen Tragweite sind wie damals. Sämtliche Vorschläge, die die gegenwärtige Debatte um Erziehung bestimmen -- von der Verkürzung der Schulzeit bis zum praxisorientierten Unterricht, von der Diskussion über Eliteschulen bis zur Privatisierung von Schulen und Universitäten --, würden Verhältnisse im Bildungswesen einführen, wie sie vor den Humboldtschen Reformen herrschten. Jünger, moderner, "zeitgemäßer" ist Humboldts Bildungskonzept, und es ist das einzige, das für die vielfältigen Probleme, die die heutige Jugendkultur kennzeichnet, eine kohärente Antwort geben kann. Wir müssen das allgemeine Bildungsniveau drastisch anheben, und zwar nicht nur für einige ausgewählte Kinder, sondern für alle gleichermaßen. Nicht Vermittlung von abfragbarem Wissen, keine Abrichtung durch praxisorientierten Unterricht, sondern Bildung des jungen Menschen zur abgerundeten, individuellen Persönlichkeit lautet der Ruf unserer Zeit. Damit entsprächen wir den Erwartungen der Wirtschaft an Berufsanfänger mit einer fundierten, breiten Bildung, auf der man jedes Spezialwissen schnell erlangen kann, den Wünschen des Staates nach verantwortungsvollen, am Gemeinwohl orientierten Bürgern und den Forderungen an die Humanität, die verlangt, daß wir den Heranwachsenden zuallererst als Menschen und dann als künftigen Berufstätigen behandeln, gleichermaßen. Dabei können wir Humboldts Schulreform so übernehmen, wie sie dasteht, denn sie konzentriert sich auf die Grundsätze der Organisation der Schule und ihres Unterrichts. Humboldts Bildungsideal ist die einzig mögliche Antwort auf die große Not unserer Zeit.


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