Oktober 2004 Journal (Texte)

Kommentar

Kommt nun die Schillerzeit?

Von Gabriele Liebig

Kommt nun die "Schillerzeit", die unsere Zeitung seit mehr als zwei Jahrzehnten "im Schilde führt"? Man könnte es bald meinen. Nicht nur ist Friedrich Schiller neben der arabischen Literatur das zweite Hauptthema der Frankfurter Buchmesse und Gegenstand von Dutzenden neuer Bücher und Ausstellungen; zahllose Theater bringen Neuinszenierungen Schillerscher Dramen (wie viele davon ansehnlich sind, muß sich erst noch herausstellen); vor allem aber staunte der Schillerfreund nicht schlecht, als der Dichter diese Woche, feuerköpfig und verjüngt, auf der Titelseite des Spiegel prangte! Als hätte man kurzerhand den nach dem Kriege vom "Kongreß für kulturelle Freiheit", der "Frankfurter Schule" und anderen verhängten Zynismus ad acta gelegt, kommt dabei ein beschwingtes Lebensbild des revolutionären Freiheitsdichters heraus, das die anfängliche rhetorische Frage, ob Schiller nur eine "Pflichtübung für Deutschlehrer" sei, "dessen Freiheitsdurst keinen von Computerspiel-Massakern ermüdeten Schülerkopf mehr entflammen kann", auf der ganzen Linie verneint.

So wird z.B. erläutert, der Historiker Schiller habe seine Geschichte des Abfalls der Niederlande in der erklärten Absicht verfaßt, "um in der Brust des Lesers 'ein fröhliches Gefühl seiner selbst zu erwecken und ein neues unverwerfliches Beispiel zu geben, was Menschen wagen dürfen für die gute Sache und ausrichten mögen durch Vereinigung'". (Kommt unseren Lesern dieses Zitat nicht bekannt vor?) Damit habe Schiller sich direkt an seine Zeitgenossen gewandt, betont Spiegel-Autor Volker Hage: "Jene Kraft, mit der das Volk der Niederlande einst agiert hatte, sei 'unter uns nicht verschwunden', schrieb Schiller 1788, 'der glückliche Erfolg, der sein Wagestück krönte, ist auch uns nicht versagt, wenn die Zeitläufte wiederkehren und ähnliche Anlässe uns zu ähnlichen Taten rufen'." Hages Essay endet mit dem für Spiegel-Verhältnisse höchst ungewöhnlichen Schlußsatz: "Und er wird uns auch jetzt wieder sehr nahe kommen, dieser Mensch. Unser Schiller."

Welch ein Gegensatz zu 1980, als wir (damals) jungen Schillerfreunde mit unserer Begeisterung für den "Dichter der Freiheit" ziemlich allein auf weiter Flur standen. Denn in Westdeutschland wurden, im Unterschied zur DDR, die Klassiker "als veraltet geächtet", wie der Spiegel heute zugibt. "Sogar aus dem obligatorischen Unterrichtsstoff an Gymnasien verschwand Schiller in den siebziger Jahren zeitweilig als Folge der Oberstufenreform. Auch die 68er Revoluzzer hatten - wie einer ihrer geistigen Vorsprecher, Theodor W. Adorno - mit Schiller wenig anfangen können." So organisierten wir, erbost über die offen schillerfeindlichen "Mannheimer Schillertage" kurzerhand unser eigenes Schiller-Symposium. Helga Zepp-LaRouche hat anläßlich des 20jährigen Bestehens des Schiller-Instituts beschrieben (in Neue Solidarität Nr. 29/2004), wer alles dabei mitwirkte: die Germanisten Benno von Wiese, Wolfgang Wittkowski und Norbert Oellers; als Rezitatoren hatten wir Will Quadflieg und Peter Otten engagiert. Nur die ganz großen Schauspieler der Großelterngeneration konnten überhaupt noch klassische Gedichte rezitieren. Als wir einen Film über Schillers Leben drehen wollten, fanden wir partout keine jüngeren Darsteller, die Schillertexte sprechen konnten. Daher machten wir uns selbst daran, die "Kunst des Sprechens" zu erlernen; daraus entstand z.B. der Poesiekreis der "Dichterpflänzchen".

Vor allem aber wurde 1984 in Deutschland und Amerika das Schiller-Institut gegründet, um Schillers philosophischen und politischen Ideen international Wirkung zu verschaffen. Es ist ja kein Zufall, daß in so vielen amerikanischen Parks Schillerbüsten stehen, denn wer vertritt die Ideale der Amerikanischen Revolution schöner und reiner als unser Dichter der Freiheit? In Kabale und Liebe (1782) prangert er an, daß deutsche Fürsten der britischen Regierung junge Untertanen als Söldner für den amerikanischen Krieg gegen die abgefallenen Kolonien verkauften. (Ein alter Kammerdiener erklärt Lady Milford, die sich wundert, wo der Herzog das Geld für kostspielige Juwelengeschenke hernimmt: "Gestern sind 7 000 Landskinder nach Amerika fort - Die zahlen alles... Edelsteine wie diese da - Ich habe auch ein paar Söhne drunter...") Im Freiheitsdrama Wilhelm Tell (1804) ermuntert Schiller nicht nur zum Widerstand gegen den Besatzer Europas, Napoleon, er greift auch die Grundidee der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung auf. ("Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht. Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, wenn unerträglich wird die Last - greift er hinauf getrosten Mutes in den Himmel und holt herunter seine ew'gen Rechte, die droben hangen unveräußerlich und unzerbrechlich wie die Sterne selbst...") Eine für die moderne Zeit und die gesamte Welt leicht abgewandelte Version der Unabhängigkeitserklärung von 1776, die "Erklärung der unveräußerlichen Rechte aller Menschen", wurde zum Gründungsstatut des Schiller-Instituts.

Am 3. Oktober 1990 saßen wir - aus Wiesbaden auf überfüllter Autobahn angereist - am Sockel des Schiller-Goethe-Denkmals in Weimar und sangen "Freude, schöner Götterfunken", mitten in den Rauchschwaden des ganz und gar privaten Feuerwerks, und tranken Sekt mit bis dahin wildfremden Weimarer Bürgern. Da wir uns in der Begeisterung nicht um eine Unterkunft gekümmert hatten, lud uns eine liebe Anwohnerin ein, in ihrem nahe gelegenen Haus zu übernachten. Ihr Haus stammte wirklich noch aus der Schiller-Zeit, und im Wohnzimmer, wo wir am anderen Morgen frühstückten, sah es wahrhaftig aus wie bei Schillers. So erlebten ein paar Freunde und ich die deutsche Wiedervereinigung vor 14 Jahren. Der Besuch bei diesem Weimarer Künstlerehepaar prägte mein Bild von den Menschen dort im östlichen Teil Deutschlands.

Schiller wurde nicht erst in der DDR, sondern schon viel früher in der Arbeiterbewegung geliebt und verehrt. Vor hundert Jahren, im Schillerjahr 1905, reklamierten zwar alle Fraktionen im Kaiserreich Schiller für sich: die wilhelminische Obrigkeit, die Deutschnationalen, die Bildungsbürger; für uns heute am sympathischsten taten dies jedoch die Sozialdemokraten. Und warum liebten und feierten sie den Dichter? Der Vorwärts vom 9. Mai 1905 beschreibt die "Schillerfeier der Berliner Arbeiter", der zwei Polizisten als Aufpasser beiwohnten, und zitiert aus der Rede des Genossen Pernersdorfer: "Es sind der Menschheit große Dinge, die Schiller in all seinen Werken immer wieder in den Vordergrund gebracht hat. Sein Genius ließ ihn eine große Zukunft der Menschheit ahnen... Schiller träumte von einem Reich der Schönheit, von einem ästhetischen Ideal, und da kommt er uns Sozialisten so nahe, daß wir von ihm begeistert werden, wenn er uns seinen ästhetischen Menschen zeigt... Dieses Ideal nehmen wir Sozialisten auf... Es ist grotesk, sich Schiller vorzustellen, im Bunde und im Einverständnis mit den herrschenden Gewalten... Schillers Idealmensch hat heute nirgends Raum; trostlos sieht es aus ringsum. Wir Sozialisten sind an der Arbeit, ihm eine Stätte zu bereiten; wir wirken, damit eine Menschheit erwachse, zu der endlich durchs weit geöffnete Tor die Freude einziehe." Der Redner endete mit Schillers Ode an die Freude.

Auch dies erklärt, warum heute, bei den neuen Montagsdemonstrationen, Menschen Tränen in die Augen bekommen, wenn die jungen Leute von der LaRouche-Jugendbewegung, die sich für die BüSo und das Schiller-Institut einsetzen, "Freude, schöner Götterfunken" anstimmen.

Das Schillerjahr 2005 fällt in nicht weniger revolutionäre Zeiten als die Hundertjahrfeier 1905, der Anfang des Jahres der große Ruhrstreik vorangegangen war. Die Montagsdemonstrationen für Arbeitsplätze und gegen Hartz IV, die in den neuen Bundesländern begannen und sich auf ganz Europa auszuweiten beginnen, sind der Anfang einer Bewegung von Menschen, die sich nicht damit abfinden, daß die einst wohlhabenden Industriestaaten Europas durch eine gnadenlose Globalisierung zu postindustriellen Schrotthaufen mit bankrotten Sozialsystemen gemacht werden; die nicht untergehen wollen wie das Römische Imperium, das zuerst eine Weile parasitär von der Sklavenarbeit der übrigen Welt lebte und dann an genau diesem Prozeß zugrunde ging; die erkennen, daß dieses Wirtschaftssystem des globalen Marktes einfach nicht funktioniert und nach Veränderung schreit.

Diesen Menschen sagt Schiller, sie sollen über die üblen Mißstände der Welt nicht bloß schimpfen oder stumm an ihnen leiden, sondern sie sollen gemeinsam dafür sorgen, daß sie geändert werden. Und um dies zu erreichen, gibt er ihnen "zwei Genien" zu Begleitern durchs Leben mit: die Schönheit und das Erhabene. Hier liegt die tiefere Ursache, warum Schiller gerade heute so "aktuell" ist.


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