September 2003 Texte (3)

Wirtschaftsaufschwung und Frieden
müssen auf universellen kulturellen Prinzipien gründen

Von Helga Zepp-LaRouche

Die folgende Rede hielt die Gründerin des Schiller-Instituts auf der Konferenz "Die Welt nach dem Irakkrieg" am 26. Mai 2003 im indischen Bangalore.


Auf Thukydides hören
Weltreichspolitik
Leo Strauss
Nikolaus von Kues: Frieden der Religionen
Universelle Prinzipien des Hinduismus
Das Gemeinwohl


"Frieden ist nur möglich, wenn man zuläßt, daß jedes Land seine jeweiligen Eigenschaften oder Potentiale vollständig entwickeln kann und es als sein ureigenstes Interesse auffaßt, daß alle anderen sich ebenfalls maximal entwickeln können."

Bevor ich über den Dialog der Kulturen als Alternative zum "Kampf der Kulturen" spreche, sollten wir einen kurzen Blick auf die Weltlage werfen, denn der "Kampf der Kulturen" geht leider bereits vor sich.

In Afghanistan herrscht kein Frieden, die Opium-"Warlords" beherrschen das Land. Im Irak fordern Zehntausende schiitische und sunnitische Moslems die Besatzer zum Verlassen des Landes auf. Im Nahen Osten gehen die Kräfte, die in Israel herrschen - aus Israel selbst und aus den USA - , brutal gegen die Palästinenser vor und nehmen sich dabei, wie sie selbst zugeben, das Vorgehen der Nazis gegen das Warschauer Getto zum Vorbild. Dem folgen dann Selbstmordanschläge gegen Israel. Es gibt neue Terroranschläge, angeblich von Al Qaida, in Tschetschenien, Saudi-Arabien und Marokko - und vorher schon auf Bali und in Tunesien. Alles das geschieht im Zusammenhang des sogenannten "Krieges gegen den Terror", den Präsident Bush erklärt hat. Es sieht so aus, als erzeuge dieser "Krieg gegen den Terror" erst recht noch viel mehr Terrorismus.

Was geschieht, wenn die Worte des früheren CIA-Chefs Woolsey eintreffen: daß der Krieg gegen den Terrorismus hundert Jahre dauern werde und in 60 Ländern, die nicht hinreichend demokratisch seien, ein Regimewechsel nötig sei? Wenn dieser Trend nicht aufgehalten wird, dann wird sich bewahrheiten, wovor Mahatma Gandhi warnte: Wenn wir nach dem Motto "Auge um Auge" handeln, ist am Ende die ganze Welt blind. "Die ganze Welt blind" ist nur ein anderes Wort für ein neues finsteres Zeitalter.

Auf Thukydides hören

Angeblich ist der "Krieg gegen den Terror" eine Antwort auf die Anschläge vom 11. September 2001. Tatsächlich aber bot das ominöse Geschehen jenes Tages der Gruppe um Cheney, Rumsfeld, Wolfowitz, Perle usw. die Gelegenheit, eine Politik umzusetzen, die sie schon Jahre vorher beschrieben hatte: 1991, 1996 und 1998 - nämlich die Vorstellung eines amerikanischen Unilateralismus und präventiven Atomkriegs. Schon als die Sowjetunion zusammenbrach, erklärte dieselbe Gruppe - Rumsfeld, Cheney usw. - im Umfeld von Präsident Bush senior, die USA seien nun die einzig verbliebene Supermacht, und es sei jetzt an der Zeit, ein Weltreich zu werden.

Denken wir zurück: Die USA besaßen damals keine Feinde mehr; die Sowjetunion hatte sich aufgelöst. Sie befanden sich in der gleichen Situation wie das antike Griechenland, nachdem es das Perserreich besiegt hatte. Es war kein bedeutender Gegner mehr übrig, und es wäre sehr leicht gewesen, mit den anderen Staaten ein friedliches Bündnis zu schließen. Im Falle der Griechen Athens waren das die anderen Stadtstaaten und Mitglieder des Attischen Seebundes. Aber wie Thukydides, der erste berühmte Geschichtsschreiber, in seinem Buch Der Peloponnesische Krieg berichtet, behandelte Athen seine Verbündeten nunmehr als Vasallen und begann einen Krieg gegen Sparta, weil es ein Großreich werden wollte.

Ich rate besonders jungen Menschen, Thukydides' Buch zu lesen, denn es ist einer der besten Bezugspunkte, um die heutige amerikanische Politik zu verstehen.

Wegen der Wirtschaftskrise im Inland und der physischen und moralischen Überdehnung im Zusammenhang mit dem gescheiterten Sizilienfeldzug (415-413 v.Chr.) brach Athen bald danach zusammen.

Die Vereinigten Staaten hätten beim Zusammenbruch der Sowjetunion 1989-91 die Ost-West-Beziehungen auf eine ganz neue Grundlage stellen können. Sie hätten sehr leicht eine weltweite Friedensordnung aufbauen können, weil es keine größere Bedrohung, keinen äußeren Feind mehr gab.

Genau zu dieser Zeit legte Lyndon LaRouche der Öffentlichkeit das Konzept der Eurasischen Landbrücke vor, um erstmals die Länder Eurasiens wirtschaftlich und infrastrukturell zu einen. Wir trugen diese Idee in viele Länder; wir veranstalteten Konferenzen in Rußland, China, allen europäischen Ländern und vielen Städten der USA. Das Konzept sah vor, den gesamten eurasischen Kontinent von Europa über Rußland bis nach China, Südasien und Südostasien, mit "Infrastrukturkorridoren" zu verbinden: ein Netz, das Autobahnen, Eisenbahnen, Wasserwege mit modernster Kommunikationstechnologie sowie Energieerzeugung und -verteilung vereint; diese Korridore bildeten Verkehrsarterien mit einer Breite von 100 Kilometern. Das wären ideale Bedingungen für den Bau neuer Städte. Wir wollen in den unentwickelten Teilen Eurasiens tausend neue Städte bauen. Die Inlandsgebiete Eurasiens ohne Zugang zum Meer sollen zum ersten Mal die gleichen vorteilhaften Bedingungen für den Verkehr usw. erhalten, über die bisher nur die Länder verfügen, die am Meer liegen oder an große Fluß- und Kanalnetze angeschlossen sind.

Durch diese eurasischen Infrastrukturkorridore kann man beispielsweise Zentralasien und die Weiten Rußlands oder das Landesinnere Chinas, natürlich auch Indien, auf den Entwicklungsstand Europas bringen. Hierbei geht es offensichtlich um mehr als ein Wirtschaftsprogramm, vielmehr könnten so die Grundlagen für dauerhaften Frieden durch Entwicklung gelegt werden.

Weltreichspolitik

Erfreulicherweise wird dieser Vorschlag heute teilweise verwirklicht. Aber gleichzeitig will die Gruppe um Cheney um jeden Preis ihre Ideologie und ihre Pläne umsetzen, die in der Tradition von H.G. Wells und Bertrand Russell stehen. Ihrer Ansicht nach sei jetzt der Zeitpunkt gekommen, ein anglo-amerikanisches Weltreich zu gründen.

Diese imperiale Richtung gab es in den USA schon während des gesamten 20. Jahrhunderts. Sie trägt u.a. die Verantwortung für die amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, für die keinerlei militärische Notwendigkeit bestand. Es ist im wesentlichen die Politik von Samuel Huntington, Zbigniew Brzezinski und Henry Kissinger. Brzezinski schreibt in seinem Buch Die einzige Weltmacht, wie man die Kräfte insbesondere in Zentralasien gegeneinander ausspielen könne, um dort die Kontrolle über die Rohstoffe zu erhalten. Der gleiche Brzezinski wollte auch die sog. "islamische Karte" gegen die Sowjetunion ausspielen. Wer wissen will, warum es in Afghanistan so viel islamischen Fundamentalismus gibt - die "Afghanzis" - , der frage am besten Brzezinski, denn es war die Idee der Anglo-Amerikaner, Moslems in solche Fundamentalisten zu verwandeln.

Als Kissinger Nationaler Sicherheitsberater Präsident Nixons war, schrieb er 1974 den berüchtigten Bericht NSSM-200 - man kann ihn im Internet einsehen - , worin er unmißverständlich erklärt, eigentlich gehörten sämtliche Rohstoffe der Welt den Vereinigten Staaten, und daher liege es im Interesse der USA, in den rohstoffreichen Ländern auf eine Bevölkerungsreduzierung zu drängen, weil die Bevölkerung dort sonst zu viele der Rohstoffe verbrauche, die eigentlich den Vereinigten Staaten zustehen.

Samuel Huntington schrieb schon 1957 Der Soldat und der Staat, worin er die Politik der Nazis verteidigt und einen Plan vorlegt, wie man eine imperiale Armee hirnloser Soldaten aufbaut, die nur Befehle ausführen, ohne je selbst zu denken. 1996 schrieb derselbe Huntington dieses schrecklich dumme Buch Der Kampf der Kulturen. Ich sage bewußt "schrecklich dumm", weil ich mich gezwungen habe, es unter Qualen selbst zu lesen - dieser Mann weiß nichts vom Christentum, nichts vom Hinduismus, vom Islam oder Konfuzianismus oder sonst etwas. Denn er behauptet, alle diese großen Kulturen und Religionen hätten nichts gemeinsam, es gebe keine gemeinsamen Prinzipien, und deshalb könne es in der Zukunft nur Stammeskonflikte im Weltmaßstab geben. Offensichtlich ist das heute die vorherrschende Politik der USA: Die Unterschiede zwischen Kulturen und Religionen sollen hochgespielt und instrumentalisiert werden.

Leo Strauss

Leute wie Cheney und Wolfowitz wollen nicht nur diese Pläne von Wells und Russell umsetzen, sie vermischen dies auch mit der bösartigen Politik von Leo Strauss. Mit diesem Mann sollte man sich wirklich gründlich beschäftigen, denn man kann die Kriegspartei in den USA nur verstehen, wenn man Strauss und seine Schüler kennt. Leo Strauss war ein deutscher Jude, der in den 30er Jahren in die USA auswanderte und an der Universität Chikago "politische Philosophie" lehrte. Die New York Times schrieb einmal, er sei der Pate des "Vertrags mit Amerika", jenes faschistischen Programms, das Newt Gingrich 1994 vorschlug. Das Time Magazine bezeichnete ihn auch als einen der einflußreichsten Männer der amerikanischen Politik, und leider ist das auch wahr.

Sein Grundgedanke besagt, Liberalismus sei sehr gefährlich und müsse abgeschafft werden. Und "Philosophen" dürften niemals sagen, was sie wirklich meinen, weil ihre Botschaft nur für die sehr kleine Zahl weiser Männer bestimmt sei, die überhaupt in der Lage wären, sie zu verstehen und auszuhalten. Unter "Philosophen" versteht er nicht das, was man üblicherweise darunter versteht, sondern das, was Nietzsche als "Übermenschen" bezeichnet. Da dieser Begriff ziemlich diskreditiert ist, sagt er statt dessen "Philosophen".

Diese Übermenschen oder Philosophen verfügen angeblich über das Allheilmittel, das ihre Zeit braucht, und um das durchzusetzen, haben sie das Recht, mit ehrenhaften Mythen, "noblen Lügen" und frommem Betrug zu arbeiten - anders gesagt: die Religion und alle wichtigen kulturprägenden Aussagen zu manipulieren. Denn Strauss zufolge herrscht ein unlösbarer Konflikt zwischen dem Interesse des Staates und dem der Gesellschaft, und der läßt sich nur durch Lügen und Täuschung vertuschen. Am besten geeignet für solche Lügen ist die Religion, weil der Mensch für Strauss von Natur aus egoistisch und egozentrisch ist.

Dies geht auf die philosophische Tradition von Thomas Hobbes zurück, die besagt, der Mensch sei von Natur aus böse und befinde sich mit allen anderen Menschen im Kriegszustand. Und weil jeder in seinem Egoismus gefangen sei, brauche man einen strafenden Gott, der alle in Angst und Schrecken hält. Weil man die Existenz solcher Götter nicht durch Vernunft und Philosophie erklären könne, brauche man diesen furchterregenden Gott, der die Gesellschaft einschüchtert und zähmt. Wenn Karl Marx sagte, "Religion ist Opium für's Volk", so sagte Strauss, "die Menschen brauchen Opium, also gebt es ihnen".

Er wollte Liberalismus, die Moderne und die Aufklärung abschaffen; er gehört zu der Denktradition in der europäischen Philosophie und Geschichte, die man als "Konservative Revolution" bezeichnet. Diese Leute wollten die Ideen der Amerikanischen Revolution von 1776 abschaffen.

Um diese Politik umzusetzen, sagt Strauss, braucht man einen bestimmten Typ von Intellektuellen, die sich einig sind, daß Wahrheit nur eine Erfindung sei, daß Recht heiße, Freunden Gutes und Feinden Schlechtes zu tun, und daß dieses Wissen nur einer kleinen Elite vorbehalten ist, die zum Herrschen bestimmt ist. Diese Elite muß gepflegt und in der Kunst der Lüge ausgebildet werden. Kennen Sie das in der Politik? Vielleicht nicht in Indien, aber wir in Europa und Amerika kennen es mit Sicherheit. Das Ziel ist nur die Macht an sich, und dazu muß man lügen. Ihre Weltsicht ist teuflisch. Sie glauben, die Welt werde vom Bösen überrollt, und nur sie könnten die Welt retten.

Strauss stimmte auch mit dem Rechtsphilosophen der Nazis, Carl Schmitt, überein, der sagte, die grundlegende Unterscheidung in der Politik sei die von "Freund oder Feind". Schmitt bewunderte die Nazis, weil sie den Feind - die Zigeuner, die Juden usw. - auslöschten. Sie sagten immer: "Wir oder sie."

Wir alle haben die Pressekonferenzen mit Präsident George W. Bush verfolgt, auf denen er sagte: "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns." Dazwischen gibt es nichts. Strauss sagt auch, wenn es keine äußere Gefahr gibt, dann müsse man eine erfinden. Deshalb hat man, als die Sowjetunion zusammenbrach und kein Grund mehr für eine feindselige Haltung gegenüber irgend jemandem bestand, einen neuen Feind erfunden: den Islam.

Nikolaus von Kues: Frieden der Religionen

Am 11. September sagte Präsident Bush: "Wer nicht für uns ist, der ist für die Terroristen." Obwohl es keinen Beweis für eine Verbindung zwischen dem 11. September und Al Qaida gibt, der vor Gericht standhalten würde, hat trotzdem mit dem Krieg gegen Afghanistan der Kampf der Kulturen begonnen. Wenige Tage danach habe ich einen dringenden Aufruf für einen Dialog der Kulturen herausgegeben, der auf einer schönen Schrift des Nikolaus von Kues, der das Konzept des Nationalstaates im 15. Jahrhundert begründete, beruhen sollte. Nikolaus von Kues war Kardinal und praktisch Außenminister des Vatikans, aber auch Begründer der modernen Wissenschaft und ein Vorläufer von Gottfried Leibniz.

Als 1453 Konstantinopel eingenommen wurde, gab es eine Art "kleinen Kampf der Kulturen"; überall in Europa gab es Berichte über Vergewaltigungen, Morde, Gotteslästerungen usw. Da schrieb Nikolaus, der kurz zuvor selbst Konstantinopel besucht hatte, einen schönen Dialog in der Tradition der sokratischen Dialoge, De pace fidei ("Über den Frieden im Glauben").

In dem Dialog wenden sich Vertreter von 17 Religionen und Nationen an Gott und erklären - ich gebe es sinngemäß wieder - : "Wir alle streiten und töten uns gegenseitig in Deinem Namen. Das kann nicht Dein Wille sein, kannst Du uns helfen?" Gott antwortet: "Ihr alle seid nicht nur Religionsführer, ihr seid auch weise Männer, und als Weise und Philosophen wißt ihr, daß es nur eine Wahrheit geben kann." Sie sagen: "Als Philosophen begreifen wir, daß es nur eine Wahrheit gibt. Warum bekämpfen wir uns trotzdem gegenseitig?" Gott antwortet: "Ihr verwechselt das Wort der Propheten mit dem Wort Gottes und die vielen religiösen Traditionen mit der einen Wahrheit." Sie stimmen zu: "Ja, es gibt viele Traditionen, aber nur eine Wahrheit. Aber wenn schon so viel Blut vergossen wurde und wir so viele Kriege geführt haben, wie sollen wir dann zu unseren Völkern zurückkehren und ihnen sagen, sie sollten jetzt eine neue Religion annehmen? Das werden sie nicht tun." Da entgegnet Gott: "Sie müssen gar keine neue Religion annehmen. Sie sollen die eine Religion annehmen, die über allen anderen Religionen ist und vor ihnen war."

Universelle Prinzipien des Hinduismus

Als ich diesen Dialog las, faszinierte mich dieser Gedanke und ich nahm mir vor zu untersuchen, ob er auch in anderen Religionen vorhanden ist. Ich setzte mich mit der Rigveda auseinander, und stieß dort auf das gleiche Konzept der einen Religion, die über allen und vor allen ist. Man nennt sie im Hinduismus das "Sanatana Dharma", das sogar noch über dem Hindu Dharma steht.

Es ist sehr interessant, daß Swami Vivekananda in seiner berühmten Rede vor dem Weltparlament der Religionen in Chikago am Ende des 19. Jahrhunderts fast dieselben Worte benutzte wie Nikolaus - daß die Anhänger der verschiedenen Religionen sich streiten und bekämpfen, weil ihre Sichtweise zu eng sei und sie nicht begriffen, daß das höchste Wesen unendlich ist. Ich weiß nicht, ob Swami Vivekananda Nikolaus von Kues gelesen hat; ich glaube auch, daß das nicht so wichtig ist, denn ich halte diese Wahrheit für so offenbar, daß jeder Mensch guten Willens irgendwann darauf kommen wird.

Am 20. Januar erschien in der Hindustan Times ein hochinteressanter Beitrag des zeitgenössischen Philosophen Karan Singh. Es ging um die Frage, ob Indien sich auf hindutva stützen sollte - soll Indien ein eher fundamentalistischer Staat werden, in dem Kirche und Staat vermischt werden, oder nicht? Er verweist darauf, daß es im Hinduismus bestimmte Grundprinzipien gibt, die man in den Upanischaden findet, die darauf die Antwort geben. Er hebt besonders fünf Prinzipien hervor, die besonderer Beachtung wert seien. Ich möchte sie nennen und darstellen, wie sie sich in der europäischen und anderen Kulturen widerspiegeln.

Das grundlegendste Konzept ist das des allumfassenden brahman. ishawaram idam sarvam jagat kincha jagatvam jagat - "Alles, was existiert, wo immer es existiert, ist von der gleichen göttlichen Kraft durchzogen."

Diese kosmische Dimension der Existenz findet man auch in der platonischen Tradition der europäischen Religion und Philosophie. Nikolaus von Kues beispielsweise hat die Vorstellung vom quod libet in quo libet - daß das Eins, das Universum als vollkommenste Ordnung der Dinge, vor allem anderen kommt, damit alles in allem existieren kann.

Der Grund, warum ich mich anderen Menschen mitteilen kann, ist nicht, daß wir alle selbstevidente, unabhängige atomare Wesen oder Teilchen im Universum wären, sondern daß wir alle vom Einen durchdrungen sind. Den gleichen Gedanken finden wir bei Leibniz mit der Idee der Monade: daß in jeder einzelnen Monade die ganze Gesetzmäßigkeit des Universums steckt.

Das zweite Prinzip ist, daß das Brahman in jedem individuellen Bewußtsein, im Atman steckt. Atman ist die Reflexion dieses allumfassenden Brahman; es ist das individuelle Bewußtsein, aber es ist im Grunde nicht vom Brahman getrennt. ishwara sarvabhutanam idise tishtati - "Der Herr wohnt im Herzen jedes Individuums." Die Beziehung zwischen Atman und Brahman ist der Kern, um den sich die ganze vedische Lehre dreht.

Im Christentum gibt es die ähnliche Vorstellung vom imago viva Dei, dem Menschen als lebendigen Abbild des Schöpfers. Er ist das "lebendige Abbild", weil der Mensch nicht bloß ein statisches Bild des göttlichen Prinzips ist, sondern selbst des schöpferischen Prinzips fähig ist. Er ist capax Dei, fähig zur Teilhabe an Gott.

Ein drittes vedisches Prinzip ist, daß alle Menschen wegen ihrer gemeinsamen Spiritualität Mitglieder einer Familie sind. Die Upanischaden sprechen von der Menschheit als amritashya putra, "Kinder der Unsterblichkeit". Im Christentum existiert Gott, dessen lebendiges Abbild der Mensch ist, in der Gleichzeitigkeit der Ewigkeit. Wenn der Mensch in seinem Leben ein gültiges universelles Prinzip beiträgt, das auf notwendigen Vorgängern beruht und die Grundlage für notwendige Nachfolger schafft, dann erweitert er durch sein Werk die Bedeutung der Vergangenheit und bereichert die Zukunft. Auf diese Weise verknüpft er sein sterbliches Dasein mit der unendlichen Kette der Menschheit.

Das vierte Konzept der Upanischaden betrifft die Idee der Wesenseinheit aller Religionen, aller geistigen Wege. ekoham svat virpra bahuda vadanti - "Die Wahrheit ist Eins, der Weise nennt sie mit vielen Namen", heißt es in der Rigveda. Nikolaus von Kues löst das alte Paradox vom Einen und vom Vielen durch den Gedanken, daß das Eins eine höhere Kraft oder Größenordnung ist und vor dem Vielen steht. Sobald die universelle Einheit geschaffen ist, kann man sich der Vielheit erfreuen. In der Rigveda>P> heißt es: Gott wollte so viele Kulturen, sonst hätte er sie nicht geschaffen.

Das Gemeinwohl

In ihrer höchsten Form sind Hinduismus und Christentum Universalreligionen und damit das Gegenteil von Fundamentalismus. Im Christentum ist das die platonische Tradition, die keinen Widerspruch zwischen Vernunft und Glauben kennt. Ein Beispiel ist der berühmte Dialog des Jesuitenpaters Matteo Ricci in China, wo er von einer Einheit im Glauben und Unterschieden der Riten ausging, wobei die Riten weniger wichtig ist.

Ein fünftes vedisches Konzept ist das des Wohles aller Wesen. bahujana shukhaya bahujana hitaya cha - die beste hinduistische Philosophie sucht "das Wohl aller Menschen und aller Lebensformen auf diesem Planeten". In der europäischen Philosophie gibt es die Vorstellung des Naturrechts, das die Richtschnur für alles positive Recht sein muß. Danach ist eine Regierung nur dann rechtmäßig, wenn sie sich dem Gemeinwohl, dem Wohl aller ihrer Bürger verpflichtet. Nach Nikolaus von Kues kann es nur Harmonie, Übereinstimmung im Makrokosmos, im Universum als ganzem geben, wenn alle Mikrokosmen ihr Potential vollständig entfalten.

Dieser Gedanke, daß es nur Frieden auf der Welt geben kann, wenn alle Nationen ihr Potential voll entwickeln - der in jeder Philosophie tief verwurzelt ist - , muß nun zur Grundlage einer Prinzipiengemeinschaft völlig souveräner Nationalstaaten werden. Frieden ist nur möglich, wenn man zuläßt, daß jedes Land seine jeweiligen Eigenschaften oder Potentiale vollständig entwickeln kann und es als sein ureigenstes Interesse auffaßt, daß alle anderen sich ebenfalls maximal entwickeln können.

Wenn die Menschheit das Zeitalter der Vernunft erreichen soll - was hoffentlich noch zu unseren Lebzeiten durch die Verwirklichung der Eurasischen Landbrücke als Grundlage einer neuen, gerechten Weltwirtschaftsordnung geschieht - , wenn der Mensch, wie Sri Aurobindo sagen würde, das Zeitalter des geistigen Menschen erreichen soll, oder das Zeitalter der Noosphäre, wie der russische Wissenschaftler Wernadskij es bezeichnete - , dann brauchen wir dazu eine kosmische ontologische Grundlage der politischen Weltordnung.

Trotz aller ihrer guten Prinzipien fehlt der Charta der Vereinten Nationen diese metaphysische oder kosmische Dimension. Deshalb brauchen wir heute in allen Regierungen Menschen, die mit einer beinahe zärtlichen Leidenschaft für die Entwicklung der Menschheit als Weise, als rishis handeln, die diese Idee lehren.

Indien hat mit dem Konzept von Brahman-Atman die bestmögliche Grundlage, die ganze Menschheit brüderlich zu umarmen. Im Christentum sind politische und geistliche Führer aufgefordert, auf der Grundlage der Nächstenliebe, agape, zu handeln. In der chinesischen Kultur muß das konfuzianische Prinzip des ren die Grundlage der Politik werden. Ren, wie agape, bedeutet Liebe. Wie es im Neuen Testament in 1. Korinther 13 heißt: "Nun bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei - aber die Liebe ist die größte unter ihnen." Wer keine Liebe hat, hat nichts.

Swami Vivekananda sagt in einer seiner Vorlesungen, Europa sei in unmittelbarer Gefahr, wenn es sich nicht seiner Spiritualität als Lebensgrundlage zuwende. Damit stimme ich völlig überein: Europa ist in tödlicher Gefahr, und wir müssen alles daransetzen, das zu ändern. Deshalb ist das Schiller-Institut nach dem großen Dichter der Freiheit Friedrich Schiller benannt, denn er entwickelte das Konzept, daß jeder Mensch eine "schöne Seele" entwickeln soll. Eine schöne Seele ist ein Mensch, für den Pflicht und Leidenschaft, Freiheit und Notwendigkeit ein und dasselbe sind. Ein solcher Mensch ist ein barmherziger Samariter, der Gutes tut, ohne daran zu denken, ob es ihm persönlich nutzt oder nicht.

Führen wir also den Dialog der Kulturen mit der Idee, daß das, was alle Kulturen und Nationen der Erde gemeinsam haben, ein schönes Menschenbild sein muß. Arbeiten wir dafür, daß jeder Mensch ein schöner Atman wird.

 


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